Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 4. Dezember 2025, Teil 3Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Wann verspürten Sie den Wunsch, Filme zu drehen, und wie ist es Ihnen gelungen, diesen Wunsch zu verwirklichen?
Meine Liebe zu Bildern entdeckte ich dank einer meiner Tanten, die eine Digitalkamera besaß. Meine ganze Familie stammt aus einem sehr armen Viertel am Rande von Santiago, und der Zugang zu neuer Technologie war ein großes Privileg. Ich habe diese Kamera benutzt, um meine Familie zu filmen oder mit meinen Cousins Fake-Dokus und Fernsehsendungen zu drehen. Später, in der High School, habe ich gelernt, wie man alles schneidet. Ich begann, Videos für meine Klassenkameraden zu drehen und hatte mich auf Abschlussvideos spezialisiert, die alle zum Weinen brachten. Danach bekam ich ein Stipendium, das es mir ermöglichte, eine gute Universität zu besuchen, die Film lehrt. Da wurde mir klar, dass ich das Kino liebe. Nicht wegen der Vorlesungen, sondern weil ich im ersten Jahr „Der Morast“ (2001) von Lucrecia Martel entdeckte und mir klar wurde, dass mich eine neue Art der Bilderwelt bewegte: Arthouse-Filme. Etwas, von dem man nicht erwartet, dass Menschen aus meinem sozialen Umfeld es mögen. Ich wurde schnell zum Cineasten. Ein Kurzfilm, für den ich die Kamera machte und den ich geschnitten habe, wurde beim Festival in Locarno mit einer besonderen Erwähnung ausgezeichnet. Ich dachte: „Wow, cool, ich werde für den Rest meines Lebens Kameramann und Editor sein!“ Später wurde mir jedoch klar, dass mir das Schreiben am meisten Freude bereitete. Für mein Abschlussprojekt schrieb und drehte ich meinen ersten Kurzfilm, „The Summer of the Electric Lion“ (2018). Er wurde von der Cinéfondation in Cannes ausgewählt und gewann den Hauptpreis.
Sie haben erzählt, dass Sie in Ihrer Kindheit viel Zeit im Friseursalon verbrachten, in dem Ihre Mutter mit drei schwulen Männern arbeitete. Einer von ihnen, Alexo, der Ihrer Mutter sehr nahestand, war mit einem anderen Mann zusammen. Beide starben an den Folgen ihrer HIV-Infektion. Das hat Ihre Mutter zutiefst traumatisiert. Warum haben Sie sich dafür entschieden, Lidia, das junge Mädchen, zur Zeugin dieser Geschichte im Film zu machen?
Das ist in der Tat der Ausgangspunkt meines Films: wie ich als Kind auf die Krankheit aufmerksam wurde. Ich bin mit einer Mutter aufgewachsen, die von HIV geradezu verfolgt wurde. Sie sah sich auch regelmäßig eine Seifenoper im Fernsehen an, in der die erste HIV-positive Figur auftrat. Sie sprach auf so furchterregende Weise darüber, dass ich mich nicht einmal traute, die Serie anzusehen. Die Vorstellung von dieser Krankheit machte mir Angst.
Später, nachdem ich mich geoutet hatte, entdeckte ich die LGBTQIA+-Community – es war unglaublich. Lidia fühlt sich inmitten dieser queeren Menschen auf natürliche Weise wohl, hat aber gleichzeitig Angst vor der Krankheit. Sie repräsentiert beide Phasen meines Lebens – die eine tragisch und von Angst geprägt, die andere voller Freude.
In dem Film, der im Jahr 1982 spielt, gibt es das Gerücht, dass HIV durch Blicke übertragen werden kann. Wir sehen Bergleute, die ihre Augen schützen oder die queeren Charaktere zwingen, sich die Augen zu verbinden, wenn sie ihre Häuser betreten. Gab es dieses Gerücht damals wirklich oder ist es Ihre Erfindung?
Ich habe es erfunden. Als ich mit dem Schreiben des Drehbuchs begann, habe ich jedoch recherchiert, wie über HIV diskutiert wurde, als es zum ersten Mal auftauchte, und bin auf einige wilde Dinge gestoßen, darunter auch die Aussage, man solle infizierte Menschen nicht ansehen. Ich dachte mir: Warum sollten die Bergleute das nicht glauben? Und ich fand die Idee des Blicks – die sich auch im Titel widerspiegelt – ziemlich poetisch.
Es gibt auch die Idee der Liebe auf den ersten Blick, die Flamingo mit seinem Geliebten verbindet, dargestellt in dieser nächtlichen Szene am Teich mit flammenden Blitzen.
Die Verbindung zwischen Blick und Liebe ist das wichtigste Element des Films. Das Schönste ist ein liebevoller Blick. Als Lidia die Krankheit entdeckt, entdeckt sie gleichzeitig die Liebe in ihren vielen Formen: die toxische Beziehung zwischen ihrer Mutterfigur Flamingo und dessen Geliebten Yovani, eine glücklichere Variante mit Mama Boa und Clemente und ihre eigene romantische Beziehung zu Julio. Sicher, sie möchte verstehen, was mit Flamingo passiert ist, und Rache nehmen, aber ihre Geschichte kann auch als Coming-of-Age-Geschichte gesehen werden – eine Reise in die Liebe.
Die Nachtszene mit dem Blitz aus Flamingos Augen ist eine etwas naive Darstellung aus Lidias Sichtweise, basierend auf diesem Gerücht über die Ansteckung durch die Augen und die Ausbreitung der Krankheit. Sie hört Geschichten und interpretiert sie auf ihre eigene Weise. So stellt sie sich eine sexuelle Begegnung vor, für die sie keine Bilder hat – als eine Art ejakulatorischen Blick.
Nach Flamingos Verschwinden tritt Mama Boa in Erscheinung, um Lidia beizubringen, wie sie sich wehren und verteidigen kann.
Am Anfang, als Lidia von den Jungen aus der Nachbarschaft herumgeschubst wird, gibt sie Flamingo, ihrer lieben und beschützenden Mutterfigur, die Schuld dafür, sie nicht auf die Außenwelt vorbereitet zu haben. Mama Boa hingegen – älter (wie eine Großmutter), erfahrener, realistischer – weiß, dass sie bereit sein muss, sich einer harten Welt zu stellen, die niemals ihre sein wird.
Die Liebesgeschichte zwischen Mama Boa und Clemente bietet eine hoffnungsvolle Lösung zwischen den beiden Gemeinschaften – den pensionierten, versehrten Bergleuten und den queeren Nachtclub-Bewohner:innen.
Das war mir wichtig: den Film nicht auf die tragische Liebe zwischen Flamingo und seinem Geliebten zu beschränken. Schaust du jemandem in die Augen, kannst du Liebe darin finden. Diese beiden zunächst getrennten Gemeinschaften begegnen sich und verschmelzen. Es ist besser, einander anzuschauen, als wegzuschauen. Das ist die positive Seite des Films, die mir sehr am Herzen liegt. Sie leben an einem Ort, der zur Langeweile verdammt ist, aber sie sind frei von äußeren Zwängen, sogar von religiösen. Am Ende genießen sie diese Freiheit.
Der Film hat einen Western-Charakter – der Nachtclub wirkt wie ein Saloon, und als Lidia mit Julio losfährt, um Yovani zu konfrontieren, weisen Musik und Inszenierung eindeutig in diese Richtung.
Der Westernaspekt ist der verspielteste Teil des Films. Als Kind habe ich viele Western gesehen und wollte mich wieder damit verbinden. Ich wollte verschiedene Genres miteinander vermischen. Wie kann ein Kind Rache nehmen? Das alles ist Ausdruck ihrer Fantasie.
Die Figuren tragen Spitznamen nach Tieren – Flamingo, Boa, Piranha…
Das hat eine poetische Note, gleichzeitig aber auch Wurzeln in der chilenischen Tradition. Chile ist eine überwiegend sehr ländliche Nation. Selbst in der Hauptstadt Santiago sprechen wir ländlichen Jargon. Alle, unabhängig von ihrer sozialen Schicht, verwenden tierische Spitznamen. Eine Person, die gerne tratscht, wird zum Beispiel als Frosch bezeichnet. Tiere werden herangezogen, um die Realität zu beschreiben. Oft ist das abwertend gemeint, aber ich wollte es poetisch gestalten – Flamingo zum Beispiel für Eleganz und lange Beine.
Ihr Film verfällt nicht in kitschige Folklore, sondern bleibt sehr menschlich – auch während des Wettbewerbs im Nachtclub, bei der die Gäste ganz allein an separaten Tischen sitzen.
Die Männer aus der Gegend haben nichts zu tun, warum also nicht diese seltsame queere Show anschauen, anstatt allein zu Hause zu bleiben? Sie gehen diskret dorthin, nicht in Gruppen. Das war damals die Realität in den Minen – es gab nur sehr wenige Unterhaltungsmöglichkeiten. Es gab auch Bordelle, die im Film aber nicht thematisiert werden. Aber diese Orte waren durch Missbrauch und Vergewaltigungen zu gewalttätig geworden, und so verließen ihn die Prostituierten mit der Zeit. Die queere Community hingegen blieb und hielt als Gruppe durch – wie jene, die Mama Boa um sich herum aufgebaut hat.
Wenn die Außenaufnahmen im Norden Chiles entstanden sind, nehme ich an, dass die Innenaufnahmen in Santiago gedreht wurden?
Das Hauptset bestand aus einem Bauernhaus am Stadtrand von Santiago, das für den Film umgebaut wurde. Das war praktisch und billiger als ein Studio. Die Dreharbeiten dauerten 30 Tage.
Erzählen Sie uns etwas über die Schauspieler:innen…
Die Suche nach Lidia, die in der Geschichte zwölf Jahre alt ist, dauerte lange. Wir haben ein Jahr lang Castings veranstaltet, bevor wir Tamara Cortés gefunden haben. Sie war Lidia – tough, wild, ruhig, fröhlich, mit einem Hauch von schwarzem Humor. Sie hatte überhaupt keine Angst, sich im Team zu bewegen – es fühlte sich ganz natürlich an. Sie hat es nie in Frage gestellt, obwohl es ihr erster Kontakt mit Transfrauen war. Ich bat den queeren Cast, aufmerksam und fürsorglich zu sein, aber sie fand ihren Platz ganz von selbst. Paula Dinamarca, eine Freundin und Transschauspielerin, hatte in meinem Kurzfilm „The Creatures That Melt in the Sun“ (2022) eine Version ihrer selbst gespielt. Die Ausgestaltung von Mama Boa hat sie auf Menschen basieren lassen, die sie kannte und die sich wie Mama Boa verhielten. Das Ende, wenn sie Lidia im Auto über das Gesicht streicht, ist unglaublich bewegend. Sie blieb die ganze Zeit in ihrer Rolle. Paula hat einen langen Weg hinter sich – sie ging nie zur Schule und hatte ein hartes Leben. Ich bin stolz auf das, was sie erreicht hat.
Wer spielt die Titelrolle des Flamingo?
In chilenischen Filmen werden oft dieselben Schauspieler:innen immer wieder besetzt. Ich wollte neue Gesichter. Matías Catalán, der Flamingo spielt, ist unglaublich talentiert. Er ist 27 und sehr vielseitig. Er liebt das Schauspielern eindeutig mehr als den Status, der damit einhergeht. Seine Ausstrahlung und seine Genderfluidität machten ihn perfekt für die Rolle. Er bbringt etwas Neues mit – ein Geheimnis, ein Zauber für alles, was kommen wird.
Foto:
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Info:
BESETZUNG
Lidia: Tamara Cortés
Flamingo: Matías Catalán
Boa: Paula Dinamarca
Yvoni: Pedro Muñoz
Clemente: Luis Tato Dubó
Julio: Vicente Caballero
u.v.a.
STAB
Regie, Drehbuch: Diego Céspedes
Bildgestaltung: Angello Faccini
Montage: Martial Salomon
Szenenbild: Oscar Ríos
Kostümbild: Pau Aulí
Abdruck aus dem Presseheft