Theologische Impulse (190) Thorsten Latzel
Rheinland (Weltexpresso) - „Fürchte dich nicht!“ Drei einfache Worte. Darum geht‘s an Weihnachten. Mitten in der dunkelsten Zeit des Jahres, wenn die Tage am kürzesten sind, feiern wir Weihnachten: eine „Fürchte-dich-nicht-Nacht“.
Diese eine Nacht, die so anders ist als alle anderen Nächte. Oma, Opa, Kinder, Hund, Familie, Freunde kommen zusammen. Wir zünden Kerzen an, stellen Bäume in die Wohnung, gehen zur Kirche, machen ein Festessen, beschenken einander – leben Liebe. Oder versuchen es zumindest. Denn auch in dieser Nacht ist natürlich nicht alles in Ordnung. Weder die Welt, noch mein Leben, noch die Feier zu Hause. Der Baum ist schief. Onkel Holger erzählt irgendeinen Stuss. Der neue Pulli hat die falsche Farbe. Die Würstchen sind angebrannt. Und überhaupt war früher mehr Lametta.
Aber dennoch ist da diese Botschaft. „Fürchte dich nicht!“ Es ist, als wenn die ganze Welt Geburtstag hätte. Die Hoffnungsbotschaft: Das Gute gewinnt am Ende doch – durch diese eine Nacht. Eine Zeitenwende – von der Herrschaft der Gewalt zu Gottes Reich der Liebe. All die Katastrophen der Welt und meines eigenen Lebens haben am Ende nicht das letzte Wort. Es renkt sich wieder ein. Gott mischt sich ein. Wird Mensch. Und lässt uns mit unserem ganzen menschlichen Schlamassel nicht allein. Und das alles durch dieses eine Kind in der Krippe.
„Fürchte dich nicht!“
Das ist einer der Schlüsselsätze in der Bibel überhaupt.
- Priester sagen ihn zu Menschen, die Hilfe suchen: „Fürchte dich nicht. Gott hat dich erhört.“
- Hebammen sprechen ihn Frauen zu, wenn sie gebären: „Fürchte dich nicht. Du hast ein Kind.“
- Fremde grüßen so und zeigen ihre gute Absicht: „Fürchte dich nicht. Ich komme in Frieden.“
Um alles drei geht es auch an Weihnachten: Um Heil, Hilfe, Frieden – und einen Neugeborenen.
In der Weihnachtsgeschichte kommt der Satz gleich mehrmals vor. Der Engel spricht ihn zu Maria, Josef, den Hirten auf dem Feld. Die ganze Weihnachtsgeschichte – ein geistliches Encouragement. Ein himmlischer Mut-Ausbruch. Eine große Abfolge von Ent-Fürchtungen.
Da ist Maria. Eine junge Frau, die einfach so aus heiterem Himmel schwanger wird. Auch heute wäre das – je nach familiärem, sozialem Umfeld – ein veritables Problem. Damals in einer patriarchalen Gesellschaft mit rigider Sexualmoral war es eine Katastrophe. Doch dann die Verheißung des Engels:
„Fürchte dich nicht. Du hast Gnade bei Gott gefunden.
Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären,
dem sollst du den Namen Jesus geben.
Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden.“
Maria versteht nicht wirklich, wie ihr geschieht. Holt sich Rat, Beistand bei ihrer alten Verwandten Elisabeth. Auch sie wurde plötzlich im hohen Alter auf wundersame Weise schwanger. Und dann, dann beginnt Maria zu singen – von Gottes Revolution aus Liebe. Von dem Gott Israels, der sich einmischt. Der das Unrecht in der Welt nicht bestehen lässt:
„Die Gewaltigen stößt er vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“
Da ist Josef. Marias Verlobter. Der auch nicht begreift, was geschieht. Er will schon davonlaufen. Die schwangere Maria allein lassen. Mit dem Kind, das nicht von ihm ist. Doch dann erscheint ihm der Engel im Traum.
„Fürchte dich nicht, Maria zu dir zu nehmen. Was sie empfangen hat, ist von Gottes Geist.“
Und Josef, der einfache fromme Zimmermann, wächst förmlich über sich hinaus. Er bleibt bei Maria. Schützt sie. Flieht mit ihr und dem Kind vor den Häschern des Herodes. Wird zum Flüchtling. Folgt dem, was der Engel ihm in seinen Träumen sagt. Und bei alledem spricht er in den biblischen Geschichten kein einziges Wort.
Da sind die Hirten. Einfache Männer, harte Arbeiter, die draußen bei den Herden leben. So etwas wie die ausländischen Leiharbeiter auf dem Bau, deren Namen keiner kennt. Nicht diejenigen, die man als erstes zur Party einlädt. Oder mit denen man unbedingt noch ein Selfie machen muss. Doch sie sind es, denen die Botschaft zuerst gesagt wird. Die an Weihnachten als erstes mit aufs Bild kommen.
„Fürchtet euch nicht. Denn euch ist heute der Heiland geboren.“
Ein Messias im Stall, ein Königskind in der Krippe. Dieses Wunder versteht, wenn überhaupt, wohl niemand so gut wie die Hirten:
Gott klammert sich nicht an sein Gott-Sein. Seine Größe. Seine Erhabenheit. In Christus wird er Mensch. Klein, arm, schwach – um uns groß, reich, stark zu machen, Gott wird ein Außenseiter, am Rande der Gesellschaft, so wie sie. Und stellt so die sozialen Ordnungen unserer Welt heilsam – aus Liebe – auf den Kopf. Geboren im sozialen Brennpunkt. Ein Kind aus unklaren Verhältnissen. Seine Eltern werden durch ihn zu politisch Verfolgten. Migranten ohne klaren Aufenthaltsstatus.
Fürchte dich nicht!
Ich weiß nicht, was Ihre Ängste sind oder wovor Sie sich fürchten. Die Furcht vor Statusverlust: Dass die anderen mich nicht achten. Sozial abzusteigen. Die Furcht vor Fremden. Die anders leben, lieben, aussehen – und meine Werte in Frage stellen. Die Furcht vorm Alleinsein. Dass niemand da ist, der mich liebt, mich mag, mich hält. Die Furcht vorm Dunkeln. Am Ende des Lebens oder mittendrin. Ohne Licht, Sinn, Liebe. Die Furcht vorm Versagen. Dass mein Leben vergeblich ist. Ich es nicht schaffe. Enttäusche. Vielleicht ist es auch keine konkrete Furcht, die Sie umtreibt. Mehr eine allgemeine, abstrakte Angst: vor dem Leben, der Zukunft, davor, Sie selbst zu sein. Weil die Welt so irre geworden ist, irgendwie aus den Fugen. Beiden, Angst und Furcht, ist gemein, dass sie das Herz verengen und die Seele verkrümmen.
Weihnachten ist die Fürchte-dich-nicht-Nacht. Gott wird Mensch – und hilft mir, Mensch zu werden, für andere. Gott wird Mensch – und hilft mir, meinen Ängsten entgegenzutreten. Gott wird schwach und arm – und hilft mir, meine Schwäche, meine Armut anzunehmen.
- Wo ich schwach bin, gibt Christus mir neue Kraft.
- Wo ich allein bin, tritt Christus an meine Seite.
- Wo ich versage, schenkt Christus mir Leben in Fülle.
Die Ehrfurcht vor Gottes Liebe besiegt die Furcht vor der Welt – und verleiht unserem Leben einen neuen menschlichen Glanz. Ehrfurcht vor der Liebe Gottes – an Stelle von Furcht vor der Welt.
In diesem Jahr 2025 war der 150. Geburtstag von Albert Schweitzer. Der berühmte Theologe, Arzt, Musiker, Pazifist und Friedensnobelpreisträger stellte den Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben in das Zentrum seines Denkens. Er übertrug ihn dabei von Gott als Schöpfer auf alle Geschöpfe. Sein Schlüsselsatz lautet:
„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
Darum geht es, wenn das Christuskind im Stall in der Krippe bei den Tieren liegt. Der Schöpfer aller Welt überträgt die Ehrfurcht vor sich auf alles Leben. Alles Lebendige hat, von Gott geschaffen, eine Würde in sich. Es ist nicht nur um des Menschen willen da.
Unsere Aufgabe ist es, entsprechend würdevoll mit jedem Geschöpf umzugehen. Wir sind zu Gast auf einem schönen Stern und sollten uns auch entsprechend verhalten. „Fürchte dich nicht!“ Das widerspricht zutiefst der Selbstsucht der Autokraten dieser Welt. Und der Furcht, mit der diese Möchtegernherrscher andere unterdrücken wollen. Damals Augustus und Herodes, heute Putin, Trump oder Xi Jinping. Es widerspricht den politischen Extremisten in unserem Land, die Ängste schüren, Gesellschaft spalten und versuchen, als Konjunkturritter der Angst aus Krisen politisches Kapital zu schlagen. Es widerspricht einer Welt, die viele Menschen das Fürchten lehrt.
Christus als neugeborener König steht für ein Gegenprogramm. Gott kommt als Kind im Stall zur Welt – und stellt unsere Vorstellungen von oben und unten heilsam auf den Kopf. Gott wird Mensch – und hilft uns, menschlich mit allem Leben umzugehen. Jesus Christus regiert – allen Krisen, Kriegen und Möchtegernherren dieser Welt zum Trotz. Und Gottes Wort bewegt uns – dass wir wie Maria, Josef und die Hirten aufbrechen und für andere über Grenzen gehen. Christus liegt da, in Windeln gewickelt, weint, lacht, friert, atmet, liebt – in den Ställen unserer Tage: in den U-Bahn-Schächten der Ukraine, den Flüchtlingscamps im Sudan, den zerbombten Häusern von Gaza, den Traumakliniken Israels, am Düsseldorfer Bahnhof und auch bei dem einsamen Nachbarn neben uns. Wo wir einander trösten, stärken, helfen, lieben, da ist Christus mitten unter uns.
„Fürchte dich nicht!“ Weihnachten ist Mut-Zeit.
Das ist die wahre Zeitenwende – von der Herrschaft der Angst zur Freiheit der Liebe Gottes. Auch das kommende Jahr 2026 ist kein starres Schicksal, sondern steht allein in Gottes Hand.
Darum: Nur Mut, es ist Weihnachten. Gott ist bei uns, für uns, als Mensch an unserer Seite. Und wenn dann dennoch der Baum schief ist, Onkel Holger irgendeinen politischen Stuss erzählt, der neue Pulli grün statt rot ist und die Würstchen wie Grillkohle aussehen: Ach, ja! Auch das sollte uns nicht schrecken. Es ist dennoch Weihnachten. Und die Botschaft gilt – nach meiner Kenntnis ... sofort, unverzüglich.
„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren.“ (Lukas 2,10 f.)
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