Drucken
Kategorie: Wissen & Bildung
persepektive online.netAm 11. Mai 1952 schoss die Polizei erstmals mit scharfer Munition auf Demonstranten, Teil 1/10

Kurt Nelhiebel

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Lügen aus Zeiten des Kalten Krieges halten sich hartnäckig am Leben. Wenden wir uns deshalb noch einmal dem Geschehen auf dem Rüttenscheider Kirmesplatz zu. Warum enthält das Dortmunder Urteil nicht die Aussage des Essener Polizeichefs, die Polizei habe aus einer Entfernung von 25 bis 30 Metern auf die Demonstranten geschossen? Und was war mit Philipp Müller? Hatte er sich als Gewalttäter so hervorgetan, dass  den Polizisten keine andere Wahl blieb, als in Notwehr zur Pistole zu greifen und ihn zur Strecke zu bringen?

  laut Urteil war er dadurch aufgefallen, »dass er durch Armbewegungen und Zurufe die anderen Demonstranten einsatzmäßig zu lenken und mitzureißen versuchte«. Deswegen musste er sterben?

Merkwürdig mutet auch die Formulierung an: »Der tödliche verletzte Philipp Müller wurde sorgfältig von Polizeibeamten in ein Polizeifahrzeug geladen und in ein Krankenhaus gebracht.« Warum die Betonung der Sorgfalt beim Einladen  des tödlich Verletzten? Gab es da Zweifel? Herr Freud lässt grüßen! Wie ein »Stück Vieh«, berichteten Augenzeugen, hätten Polizisten den Jungen gepackt und in ein Polizeiauto geworfen. Der Münchner Rechtsanwalt Ewald R. monierte  in seiner Strafanzeige gegen Unbekannt, Polizeibeamte hätten den Schwerverletzten  »unsachgemäß « abtransportiert und sich dadurch der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Statt einen Arzt oder einen Sanitätswagen anzufordern, um dem Schwerverletzten an Ort und Stelle sachgemäß erste Hilfe zu leisten, sei er brutal an Händen und Beinen gepackt und auf ein Polizeifahrzeug geworfen worden.

In Abwesenheit eines Vertreters der Angehörigen wurde die von der Polizei beschlagnahmte Leiche Philipp Müllers auf dem Südwest- Friedhof in Essen-Haarzopf geöffnet. Die Ärzte erklärten – übereinstimmend mit den  vorausgegangenen polizeilichen Angaben – der 21-Jährige sei von vorn getroffen worden. Nach ihren Angaben war der Tod auf der Stelle eingetreten. Beteiligte an dem Geschehen äußerten sich ganz anders. Sie sagten, Philipp Müller habe noch gelebt, als er weggeschafft wurde. So hatte ein Polizeibeamter beobachtet, dass der Verletzte röchelte und bewusstlos gewesen sei. Ein anderer sagte aus, er habe den Lautsprecherwagen rufen lassen, damit der Verletzte schnellstens in ärztliche Behandlung komme.

Im Gegensatz zu diesen Angaben behauptete der Chef der Essener Polizei, Philipp Müller sei in einem Krankenwagen der Städtischen Berufsfeuerwehr zu den Kruppschen Krankenanstalten gebracht worden. Auf dem Transport sei er verstorben. Zu diesen Ungereimtheiten passt auch eine Ungereimtheit im Dortmunder Urteil. Dort heißt es an einer Stelle: »Als die beiden Gruppen Wolter und Knobloch gemeinsam den Kirmesplatz zu räumen versuchten, und zwar unter ständigem Steinhagel, fielen aus den Reihen der Demonstranten in Richtung auf die Polizei Schüsse.« Wie wir wissen, gab Polizeikommissar Knobloch auf dem Kirmesplatz den Feuerbefehl nicht als Antwort auf Schüsse aus den Reihen der Demonstranten, sondern als »der Steinhagel noch stärker« wurde.

An der Gruga, wo nach der Schilderung des Ministerpräsidenten Arnold bereits zuvor auf zwei Polizeibeamte geschossen worden sein soll, hat die Polizei keinen einzigen Schuss abgefeuert. Sie unternahm auch nichts, um etwaige Täter unter den Demonstranten ausfindig zu machen, jedenfalls fehlt darüber jeglicher Nachweis. Keiner der später festgenommenen Demonstranten hatte eine Schusswaffe bei sich, und es wurde – nach allem, was bekannt ist – auch bei keinem nach Schmauchspuren gesucht. Handelte es sich bei dem Verweis auf Schüsse aus den Reihen der Demonstranten um eine Schutzbehauptung, um das Verhalten der Polizei zu rechtfertigen? War am Ende ein V-Mann als agent provocateur am Werk, der den Protest gegen die Wiederbewaffnung in Misskredit bringen sollte? Die Antwort wird wohl, wie so vieles andere, für immer im Dunkel bleiben.  

Schluß folgt

Foto:
©perspektive-online.net