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Kategorie: Zeitgeschehen
a elviraDAS DEUTSCHE DATUM – der 9. November aus jüdischer Sicht

Elvira Grözinger

Berlin (Weltexpresso) - Ich bedanke mich für die Einladung zur heutigen Gedenkfeier, an der ich leider persönlich nicht teilnehmen kann. Ich bitte also die hier Versammelten um Nachsicht, dass ich Ihnen diese kurze Rede nur schriftlich übermitteln kann und danke auch der freundlichen Vorleserin.

Der 9. November ist ein bedeutungsschwerer Tag in der deutschen Geschichte, stets schicksalsvoll, mal verhängnisvoll, mal erfreulich. Der 9. November 1938, der sich nun zum 80. Mal jährt, gehört zu den verhängnisvollsten der deutschen Geschichte und sein Vermächtnis führt uns heute hier zusammen. Deswegen werde ich nicht bei der Vergangenheit bleiben, sondern den Bogen in sehr groben Zügen bis zum heutigen Tag spannen.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, das haben wir schon oft gehört, fanden die von den nationalsozialistischen Behörden zentral angeordneten und organisierten Überfälle von NSDAP- und SA-Schlägertrupps auf Juden und jüdische Geschäfte statt, und sie setzten Synagogen im gesamten „3.Reich“, einschließlich Österreich und der Tschechoslowakei in Brand. Die zynischen Nazis nannten es die Reichs-Kristallnacht, da das zerbrochene Glas klirrte, aber es war viel mehr als das – Tausende von Juden wurden misshandelt, verhaftet und ermordet. Dieser große Pogrom wird als das offizielle Signal zum größten Völkermord in Europa angesehen. Während es für die Juden kaum Hilfe gab, jubelten die Gaffer und Nachbarn, plünderten die Läden oder schauten weg. Die Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung europäischer Juden begann mit der Verschleppung von etwa 26.000 jüdischer Männer und Jugendlicher in die bereits existierenden Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Es folgte die Auflösung der meisten jüdischen Organisationen und das Verbot der jüdischen Presse. Diejenigen, die es noch konnten, wanderten aus und hinterließen ihr Vermögen, nachdem sie ihre Berufe nicht mehr ausüben konnten und ihre Existenzgrundlage verloren hatten.

Was danach folgte, war der schlimmste Zivilisationsbruch einer Gesellschaft, die bis dahin als dem Volk von Dichtern und Denkern zugehörig galt – die „Endlösung der Judenfrage“ wurde zum Angelpunkt der deutschen Geschichte und überschattet diese bis heute. Der entfesselte Mord- und Kriegsrausch von 1939 bis 1945 endete mit der Niederlage und Zerstörung Deutschlands. Sie führte zur deutschen Teilung. Diese endete erst – wieder - am 9. November 1989. Wer die nunmehr als Gedenkstätte erhaltene ehemalige Stasi-Haftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen besucht, in der eine Anwesnde unter den Häftlingen war, befindet sich in einem ehemaligen NS-Barackenlager für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter sowie in einem Speziallager der sowjetischen NKWD. Die Diktaturen ähnelten sich in ihrer Brutalität und bestraften die angeblichen oder echten Feinde aufs Grausamste.

Sie erinnern sich, in der DDR lebten nur die „guten Deutschen“, die Nazis hingegen allesamt drüben, in der Bundesrepublik... Da der kalte Krieg die politische Linie vorgab, war in der DDR der 1948 entstandene jüdische Staat Israel als dem feindlichen, „imperialistischen“ Westen zugehörig - und somit samt seinen Bewohnern als Feindesland - negativ betrachtet. Und weil es in der DDR nur gute Deutsche gab, allesamt angebliche KPD-Gegner der Nazis, weigerte sich dieser Staat, da unschuldig und kein Nachfolger des „Dritten Reichs“, den Weg West Deutschlands zu gehen, die diplomatischen Beziehungen mit Israel aufzunehmen, die Verantwortung für die Opfer mit zu übernehmen und Wiedergutmachungszahlungen an die Opfer des Naziregimes und an den jüdischen Staat zu zahlen. Die unterschiedlichen Wege der beiden deutschen Staaten spiegeln sich in dem Verhältnis ihrer Bürger zu Juden und zum Staat Israel wider.

Während man den real existierenden Antisemitismus in der DDR leugnete, dafür die „Völkerfreundschaft“ mit den arabischen Staaten pflegte, wurde in der Bundesrepublik die Aufarbeitung der Geschichte betrieben. Auch zahlreiche Organisationen aus kirchlichen und bürgerlichen Kreisen bemühten sich um Aussöhnung und einen Neuanfang: zum Beispiel die Aktion Sühnezeichen oder die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Freundeskreise israelischer Forschungseinrichtungen, und viele andere mehr. Dass daneben rechtsextreme Parteien wie die NPD aufkamen, die die Shoah (oder den Holocaust) leugneten und die wenigen damals in der Bundesrepublik lebenden Juden bedrohten, muss ebenfalls zur Kenntnis genommen werden.

Die westdeutschen 1968er haben gegen ihre Nazieltern und gegen den demokratischen Staat, der ihnen faschistisch erschien, rebelliert und den DDR-Sozialismus als die bessere Alternative gesehen, haben auch deren proarabischen Kurs und antisemitische Einstellung übernommen. Und nun möchte ich den Sprung ins Persönliche wagen, denn es sollte ja hier meine Sicht dargelegt werden. Erlauben Sie mir, dass ich im Folgenden auf eine sehr subjektive Weise die Linie vom 9. November 1938 bis heute aufzeichne, so wie sie sich mir darstellt. Und diese Linie ist leider vielfach getrübt.

Ich bin 1947 in Polen geboren, meine Eltern waren Ärzte und die einzigen Überlebenden in ihren Familien. 1957 mussten sie wegen des damals wieder einmal aufgeflammten Antisemitismus Polen verlassen und gingen nach Israel. Dort bin ich aufgewachsen, habe die Universität absolviert und den 6-Tage-Krieg erlebt. Die Bedrohung damals war so groß, dass wir alle mit dem Schlimmsten rechneten und eine neue Schoah nicht ausschlossen. Dass es zum Glück anders kam, war ein Wunder. Nach dem Krieg musste mein damaliger deutscher Freund, der ein Jahr lang in Israel studierte, zurück nach Deutschland. Ich folgte ihm und kam am – ja! 9. November 1967 nach West Deutschland, begann ein Zweitstudium an der Universität Heidelberg und heiratete diesen Mann, mit dem ich nun seit 51. Jahren hier zusammenlebe. Das Ankunftsdatum war mir eine Verpflichtung und diese hat immer noch Gültigkeit.

Ich habe die wilden 1968er Jahre hautnah miterlebt, die glückliche kriegslose Nachkriegszeit in einer stabilen europäischen Demokratie erlebt, etwas getrübt durch die Ölkrise und die Attentate der RAF, dennoch konnte unser Kind in Frieden aufwachsen. Zwar haben junge Neonazis versucht, unser Haus abzufackeln, sie schrien vor unserem Haus „Juden raus!“, aber es ging vorbei. Der Häuserkampf der Linken in Frankfurt am Main, wo wir lebten, zielte damals gegen „jüdische Spekulanten“ – was in dem antisemitischen Stück von Rainer Werner Fassbinder, „Der Müll, die Stadt und der Tod“ kulminierte. Seine Aufführung im Jahre 1985 wurde durch eine Bühnenbesetzung durch Mitglieder der jüdischen Gemeinde verhindert. „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“, wurde nun auch die Devise der Juden in Deutschland.

Als die Wiedervereinigung kam, habe ich auf die von Kanzler Kohl heraufbeschworenen „blühenden Landschaften“ gehofft. Seit 1994 war ich, wie mein Mann, an der Uni Potsdam tätig, das neue Fach „Jüdische Studien“ dort aufbauend, mit 400 Studierenden und Vorbildfunktion für andere Universitäten, war die positive Atmosphäre lange spürbar.

Das war eine interessante Zeit, die weniger schöne waren jedoch die beiden Jahre zuvor, als ich von 1992 an die persönliche Referentin des damals gerade gewählten Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, wurde und täglich unzählige antisemitische Zuschriften über meinen Schreibtisch gingen – oft mit vollem Namen, Adresse und nicht selten einem Militärrang oder akademischen Titel versehen. Die Schreiber waren damals allesamt Deutsche, meist Antisemiten alter Schule, unterschiedlicher Altersstufen. Sie hatten etwas dagegen, dass sich schon wieder „Juden hier breitmachten, das Sagen und die Macht hätten“. In Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen griff der Mob Vietnamesen an, Brandsätze flogen. Ignatz Bubis, der als Kind die Shoah als Waise überlebte, ertrug diese Hetze gegen Menschen nicht. Er weinte, als er das sah. 1998 musste Bubis, damals schon todkrank, sich mit der Rede Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche auseinandersetzen. Walsers „Auschwitzkeule“ war gegen die mahnenden Juden Deutschlands gerichtet.

Nun hatte das wiedervereinigte Deutschland wieder etwas von seiner alten hässlichen Fratze durchblitzen lassen! Zwischendurch waren mein Mann und ich als „Juden“ auf einer Nazi-„Todesliste“ im Internet, bis diese von den Behörden gelöscht wurde. Da wir aber nicht zu den ängstlichen Menschen gehören, haben wir unsere Koffer nicht gepackt und sind immer noch da!

Allerdings gab es seither immer wieder politische Vorfälle, die einen unangenehmen Geschmack hinterließen. Einige von Ihnen sind Ihnen sicherlich in Erinnerung:

1991 im Golfkrieg hatte ein Bundestagsabgeordneter der Grünen gemeint, Israel sei selber schuld am Bombardement durch Saddam Hussein und sorgte für Empörung;2002 gab es Ausfälle eines Grünenabgeordneten syrischer Abstammung, der Ariel Sharon beschuldigte, einen „Vernichtungskrieg“ gegen die Palästinenser zu führen und „Nazimethoden“ anzuwenden. Der damalige FDP-Politiker und Vizechef der Partei, Jürgen Möllemann, zugleich Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, verteidigte ihn und die muslimischen Selbstmordattentate auf Israelis. 2003 hielt ein CDU-Bundestagsabgeordneter eine antisemitische Rede zum Tag der Deutschen Einheit und wurde daraufhin 2004 aus der Partei ausgeschlossen.2010 haben zwei Abgeordnete der Linken an der zweifelhaften Hilfsaktion für Gaza auf dem Schiff Mavi Marmara teilgenommen, mit dem Ziel, der terroristischen Hamas Unterstützung zu gewähren, da Israel ein angeblicher „Unrechtsstaat“ sei. Diese Aktion sorgte für einem schweren Zwischenfall.2012 nannte der damalige SPD-Chef Israel einen Apartheid-Staat, was er einige Jahre später relativierte.2016 lobte der damalige Präsident des EU-Parlaments und späterer SPD-Kanzlerkandidat, die Rede von Mahmud Abbas, in der er die Israelis der Brunnenvergiftung von Palästinensern unwidersprochen beschuldigte. Das war ein seit der Epidemie des „Schwarzen Todes“ im 14. Jahrhundert bekannter Vorwurf, der zu verheerenden Pogromen gegen Juden in Europa führte.

Solcher Art Anschuldigungen gehören in die Rubrik des neuen Israel-bezogenen Antisemitismus, denn es ist eine beliebte Methode, die Juden und den jüdischen Staat als nazistisch darzustellen. Dass dies nicht stimmt, muss ich hier nicht eigens betonen. Allerdings zeigen die neuesten empirischen Studien von Prof. Monika Schwarz-Friesel, dass diese Form des Antisemitismus hierzulande immer stärker wird. Wie man sieht, sind alle Parteien nicht frei von solchen Judenfeinden, solche sind auch in der neuen Partei AfD, die zwar primär gegen Muslime aber offenbar nicht nur die agiert, wie die Holocaust-leugnenden Sprüche und Minimalisierungen der Nazizeit seitens mancher ihrer Mitglieder zeigen. Dieses mindert das Vertrauen der hier lebenden Juden in den Rechtsstaat und die Demokratie erheblich.

Die Migrationswelle seit dem Jahr 2015 hat die Situation der Juden im Land noch drastischer verändert, denn es kamen große Massen an traditionell antijüdisch erzogenen und antiisraelisch indoktrinierten muslimischen Flüchtlingen ins Land. Das Attentat auf dem Breitscheidplatz, die Morde und Vergewaltigungen zielen zwar auf alle Bürger, aber wenn auf den Schulhöfen „Du Jude“! als Schimpfwort gilt, und auf deutschen Straßen bei Muslim-Demonstrationen „Tod den Juden!“ gerufen oder israelischen Fahnen verbrannt werden, dann ist es genau so wie wenn ein jüdisches Restaurant in Chemnitz samt seinem Besitzer von deutschen Nazis mit Pflastersteinen beworfen und ein israelischer Gastronom in Berlin von einem Nazi „ins Gas!“ geschickt wird.

Dass man 80 Jahre nach der Reichspogromnacht Antisemitismusbeauftragte ernennen muss, um dem steigenden Judenhass etwas entgegenzusetzen, dann stimmt wieder etwas nicht in diesem Land und macht mir große Sorgen.

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit.

Foto:
© privat

Info:
Diese Rede wurde, wie im Text beschrieben, am 9. November in einer deutschen Stadt, die unsere Autorin zum Gedenken an die Reichspogromnacht eingeladen hatte, vorgelesen.