Drucken
Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2022 02 25 um 23.40.49Meine jüdische Familie floh 1989 aus Kiew – heute bricht mein Herz für die Stadt

Redaktion tachles

Irgendwo (Weltexpresso) - Text von Mikhail Zinshteyn: Ich wurde in Kiew geboren. Ich scheue mich, mich als Ukrainer zu bezeichnen, weil es damals die UdSSR war. Und als Juden, die schliesslich als Flüchtlinge flohen, hatte meine Familie keine ethnische Bindung an diesen Ort. Trotzdem habe ich dort gelernt, irgendwie zu lächeln. Dort wurde mein Lieblingsfoto von meiner Mutter und mir aufgenommen, nur drei Jahre bevor sie an Krebs starb.

Ich erinnere mich an den grossen Stadtpark in der Nähe unserer Wohnung und an den Zug für Kleinkinder im Sommer. Ich weiss noch, wie ich meine Schwester anflehte, mich im Winter auf einem Schlitten zu ziehen, obwohl es kaum Schnee gab.

Dass ich überhaupt dort geboren wurde, lag daran, dass ich wusste, wann ich gehen musste - und wann ich zurückkommen sollte. Meine Babuschka, meine Grossmutter, floh 1941, einen Tag bevor die Nazis kamen, aus Kiew. Ihre eigenen Grosseltern blieben. Sie wurden in Babyn Yar ermordet.
Nach dem Krieg war der Antisemitismus in der Ukraine unter den Sowjets stark und widerwärtig. Mein Vater erinnert sich daran, wie KGB-Offiziere Fotos von Männern machten, die vor der Synagoge Schlange standen, um Matze für das Pessachfest zu kaufen - ein Verbrechen an den Juden.
Männer, die auf diesen Fotos zu erkennen waren, wurden entlassen oder schlimmer noch, wie mein Vater und seine nahen Verwandten sich Jahre später erinnerten, als wir in unserem neuen Zuhause in den Vereinigten Staaten an einem Esstisch sassen, auf dem hausgemachter Gefilte Fisch, Salat Olivier und gehackter Heringssalat standen. Die Erwähnung eines Pogroms, die Ermordung jüdischer Ärzte oder die totale sowjetische Amnesie darüber, dass die Juden beim deutschen Überfall auf die UdSSR zu Millionen ins Visier genommen wurden - all dies wurde mit einem wissenden und erschöpften Nicken quittiert.
Und so sind wir wieder gegangen.

Ich habe immer noch alle Papiere, die unsere Ausreisegeschichte erzählen, die so vielen Juden, die in den 1980er Jahren ausgereist sind, vertraut ist. Unser Ausreisevisum nach Israel. Unsere Flüchtlingspapiere für die Vereinigten Staaten. Unsere Flüchtlings-ID-Nummern.
Die Ausreise nach Israel mit einem offiziellen Ausreisevisum war offiziell die einzige Möglichkeit für Juden, aus der UdSSR auszureisen. Da aber zwischen Israel und Moskau keine diplomatischen Beziehungen bestanden, flogen alle Juden zunächst nach Wien.

Während andere Familien, die nach Israel reisten, direkt zu ihren Flügen nach Tel Aviv aufbrachen, blieben wir in Wien und warteten auf unsere Einreiseerlaubnis in die USA. Unsere trinationalen Ausreise- und Einreisevisa wurden von den Niederländern (Israels Vertretern in Moskau), den Österreichern und den Sowjets abgestempelt. Nach mehreren Monaten in Wien sicherte die Hebrew International Aid Society unseren Flug nach New York City.
Wir kamen am 7. Februar 1989 als Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten. Meine Mutter starb Monate nach unserer Ankunft in New York an einem aggressiven Brustkrebs. Meine Familie vermutete lange, dass ihr Krebs durch die Nähe zu Tschernobyl ausgelöst wurde, als der Atomreaktor explodierte. Diese Vermutung ist wissenschaftlich unbegründet, spielte aber eine grosse Rolle in der Geschichte meiner Familie.

Da ich ein Kind in Kiew war, als der Kern von Tschernobyl schmolz und radioaktive Abfälle in den Himmel spuckte, befürchtete mein Vater, dass auch ich verstrahlt war. Während meiner gesamten Kindheit beschränkte er mein Spiel im Freien auf die Zeit des Sonnenuntergangs und liess mich lange Ärmel und eine Mütze tragen, wenn wir tagsüber unterwegs waren - so gross war seine Angst, dass die Sonne etwas in mir auslösen könnte, das die Ärzte nicht kannten und das Tschernobyl hinterlassen hatte. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich heute so blass bin.

Zum ersten Mal lebten wir für einige Wochen in Midtown Manhattan, ich glaube, in einem Übergangswohnheim für genesende Süchtige (als ich das letzte Mal in den 2000er Jahren nachsah, war es ein Hotel). Mein Vater erinnert sich daran, wie er in einer Telefonzelle im Flur mit Ärzten über den sich verschlechternden Zustand meiner Mutter sprach, wobei sein gebrochenes Englisch um Klarheit gegenüber der Aufregung im öffentlichen Raum rang. Einmal in Brooklyn nahm ich mit meiner älteren Schwester an einem jüdischen Ferienlager teil - Erfahrungen, die ein Rabbiner, mit dem mein Vater befreundet war, für uns organisierte, auch um uns vom Niedergang unserer Mutter abzulenken. Monate später zogen wir nach Los Angeles, wo ich die meiste Zeit meines Lebens verbrachte und jetzt wieder lebe. Meinem Vater und einem Foto zufolge, das ich einmal bei einem Gegenbesuch gemacht habe, war unser altes Viertel mit Plakaten geschmückt, auf denen «patrouilliert von der Privatpolizei» stand - eine angebliche Anspielung auf die organisierte Kriminalität, die dort Wache hielt.
Trotz des Traumas dieser Reise betrachte ich Kiew mit Zuneigung. Mein Herz bricht für die anderen Kinder, die von Vertreibung bedroht sind, für die Familien, die wegen Moskaus Untaten möglicherweise fliehen müssen.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Putin zu einer gross angelegten Invasion übergehen würde, sondern dass er stattdessen versuchen würde, die ukrainische Demokratie mit weniger Gewalt zu destabilisieren. Ich war auch davon ausgegangen, dass angesichts der Tatsache, dass beide Länder durch den Schrecken von Hitlers Einmarsch verbunden sind, ein russischer Blitzkrieg in der Ukraine jenseits des Möglichen liegen würde. Aber leider.
Ich finde es erschütternd, dass eine Stadt, die in den letzten 80 Jahren eine völkermörderische Besatzung, nuklearen Niederschlag und zivile Unruhen ertragen musste, nun dies ertragen muss.

Es ist nicht meine Aufgabe, Lösungen anzubieten. Es ist meine Aufgabe zu sagen, dass die Tragödie einer Stadt, die 6000 Meilen entfernt ist, sehr gegenwärtig und roh ist.

Foto:
Das Ausreisevisum von Mikhail Zinshteyn sowie sein liebstes Foto, welches ihn mit seiner Mutter und Schwester zeigt
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 25. Februar  2022