Drucken
Kategorie: Zeitgeschehen
Russ.Konvoi nahe MariupolReflexionen über ein militärisches Konzept

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Bundeskanzler Olaf Scholz zaudert. Trotz vieler drängender Probleme, deren Lösung keinen Aufschub duldet, erweckt er den Eindruck, sich nicht festlegen zu wollen.

Möglicherweise hängt er einer typischen sozialdemokratischen Eigenschaft nach, die aus der ewigen Neigung zu Kompromissen hervorgegangen ist. Nämlich für alles einen Arbeitskreis einzuberufen, um sich vor einer klaren, selbst zu verantwortenden Entscheidung herumzudrücken. Da der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wesentliche demokratische, soziale und völkerrechtliche Errungenschaften in Europa bedroht, ist auch von deutscher Seite ein sofortiges Handeln erforderlich. Wladimir Putin, Russlands Diktator, lässt seine Truppen militärische und zivile Infrastruktur der Ukraine zerstören, nimmt keine Rücksicht auf Menschenleben und Menschenrechte. Das Zerstörungspotential seines Militärs schöpft sämtliche Bereiche unterhalb der nuklearen Schwelle aus. Gleichzeitig droht er allen Staaten, die sich gegen ihn stellen, die atomare Vernichtung an. Sowohl seinen direkten Nachbarn als auch Deutschland. Es hat den Anschein, dass Kanzler Scholz diese Regel akzeptiert, weil er nach einem Ausweg aus den Realitäten sucht; nach einem Ausweg, der die Eigenschaften einer Umleitung besitzt. Doch eine solche gibt es nicht und wird es nicht geben.

Ich stelle mir vor, dass Nazi-Deutschland der Bau von einsatzfähigen Atomwaffen, vor allem von atomar bestückten Raketen, gelungen wäre. Hätten die Alliierten, weil sie eine atomare Katastrophe für die gesamte Welt befürchteten, das Bombardement deutscher Städte eingestellt? Hätten sie ihre Truppen, die bereits auf von Deutschland besetztes Territorium vorgedrungen waren, zurückbeordert? Hätten sie den Vormarsch der Roten Armee gestoppt, indem sie Stalin keine Panzer, Kanonen, Flugzeuge, Fahrzeuge und Gewehre mehr lieferten? Hätten sie dem Morden in den Konzentrationslagern weiter zugesehen? Hätten Sie mit den Nazis einen Friedensvertrag geschlossen, der dem Deutschen Reich die eroberten Länder zusprach? Ein faschistisches Deutsch-Europa, vom Atlantik bis zum Ural, von Nord- und Ostsee bis zum Mittelmeer, in dem auf Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte, Willkür, Sklaverei und Unrecht geherrscht hätte?

Verfügen deutsche Politiker, vor allem die in der Regierung und in den sie tragenden Parteien, über zu wenig Phantasie, um sich angesichts der russischen Expansion solch Unvorstellbares ausmalen zu können? Hat von jenen, die zurecht nach einer ethisch verantwortbaren Gesinnung als grundsätzlicher politischer Leitlinie rufen, auch jemand sämtliche Folgen politischen Tuns und Unterlassen berücksichtigt, also den Himmel idealer Vorstellungen auf die reale Erde geholt?

Ja, ein mit Atomwaffen geführter Krieg muss verhindert werden und eigentlich auch alle anderen, in denen konventionelles Kampfgerät eingesetzt wird. Die Ukraine zeigt das Ausmaß der Zerstörung, die auch von solchem ausgeht. Doch ich befürchte, dass eine destruktive Person wie Putin nicht zögern würde, den Befehl zum atomaren Schlag zu geben, wenn er in die Enge gedrängt wird und keinen Ausweg mehr sieht. Dass es ihm sogar gleichgültig sein würde, wenn durch die nukleare Antwort der NATO Russland für Millionen Jahre unbewohnbar wäre. Sollen wir uns deswegen darauf einrichten, Putins totalen Krieg zu akzeptieren, in der Hoffnung, dass seine Begehrlichkeiten an der deutschen Grenze Halt machen? Dass der Westen die Ukraine, Moldau, Georgien und notfalls auch das Baltikum und Polen opfert, um eine europäische Apokalypse zu verhindern? Und mit welchem Recht würden wir das tun? Die Menschen der betroffenen Länder werden uns sicherlich dazu kein Mandat geben.

Die Eigendynamik der atomaren Abschreckung ist denen, die damit befasst sind und objektiv bleiben, bekannt. Generalleutnant Ulrich de Maizière, Inspekteur des Heeres (1964 - 1966) und anschließend Generalinspekteur der Bundeswehr (bis 1972), hielt 1964 den militärischen Stand der Dinge aus deutscher Sicht in einer Schrift fest. Sie trug den Titel „Die Landesverteidigung im Rahmen der Gesamtverteidigung. Untersuchung und Schlussfolgerungen“ (Verlag R. von Decker’s, Hamburg). Darin steht dieser bedenkenswerte Absatz:
„Das Territorium der Bundesrepublik ist lang und schmal. Ihm fehlt die für die Durchführung von Verteidigungsmaßnahmen notwendige Tiefe.“

Mit anderen Worten: Das, was verteidigt werden sollte, Menschen und ihr Lebensraum, war möglicherweise gar nicht zu verteidigen. Denn der Gegner hätte auf dem schmalen Grenzstreifen zur DDR und zur CSSR aufgehalten werden müssen. Wäre das nicht gelungen, wovon damals auszugehen war, hätte er - umtobt von Bomben, Granaten und Maschinengewehrfeuer - mitten im Land gestanden; in Dörfern, Städten und Großstädten, in Versorgungszentren und Industriebetrieben. De Maizière erkannte, dass der „klassische“ Krieg kaum noch zu führen war, und plädierte ausdrücklich für die atomare Abschreckung. Eine konventionell geführte Auseinandersetzung an der deutsch-deutschen Grenze hätte lediglich ein Warnsignal sein können. Ein Signal, auf das entweder der nukleare Krieg oder die Bekräftigung des Nichtkriegs hätte folgen müssen.

Die Frankfurter Satirezeitschrift PARDON hatte sich 1964 mit de Maizières Thesen beschäftigt. Und u.a. mich für die Friedensfrage sensibilisiert. Eine Zeitlang hatte ich mit dem Gedanken gespielt, nach dem Schulabschluss die Offizierslaufbahn anzustreben. Doch dann entschied ich mich anders, verweigerte den Kriegsdienst. Bekannte mich zur Gewaltfreiheit, war aber kein grundsätzlicher Gegner von Gewalt und hielt soziale Verteidigung für eine erwägenswerte Alternative zur militärischen Verteidigung. Dabei erwies sich der ghanaische Politiker Kwame Nkrumah, ein Schüler Ghandis, als Vorbild. Sein Ausspruch „Noch mehr als die Gewalt verabscheuen wir die Dummheit“ wurde meine Maxime.

Auch der Kampf gegen Putins Russland ist im Kern ein Kampf gegen die Dummheit - auf allen Seiten. Solcher Streit erfordert Mut, möglicherweise noch mehr Mut als ihn ein Soldat benötigt, der die Panzerhaubitze 2000 bedient. Und höchstwahrscheinlich auch eine gehörige Portion List. Denn die List ist eine erfolgversprechende Handlungsweise der vermeintlich Schwachen. Olaf Scholz sollte sich dazu durchringen, Putin eine klare Ansage zu machen: „Fürchte dich! Vor denen im russischen Volk, die ihren Anstand nicht verloren haben. Und vor den Gerechten in allen Völkern. Deine Tage sind gezählt!“.


Foto:
Russischer Konvoi in der Nähe von Mariupol mit typischer Kriegsbemalung
© MRG

Info:
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von www.bruecke-unter-dem-main.de
© Klaus Philipp Mertens