KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für April 2013, Teil 2

Elisabeth Römer

Hamburg (Weltexpresso) – Dagegen haben wir Brüche von Derek Nikitas aus dem Frankfurter Verlag Seeling, der auf Platz 5 startet, gleich gelesen. Nach Scheiterhaufen (2010) kommt jetzt: Brüche.Eine Familienzusammenführung der besonderen Art, die in der Katastrophe endet.

 

Über die junge Erika, die überlebt, während der Bruder und der Freund sterben, spricht die Seite 288, also weit hinten: „ Sie haßte ihren Vater für das, was sie von ihm wußte, und war so auf Wynn fixiert, wegen dem, was sie nicht wußte.“

 

Das ist wie eine Metapher des ganzen Romans, der den Leser wie das Romanpersonal selbst dauernd hin und her schüttelt zwischen Wissen und Nichtwissen. Denn hätte man gewußt, dann hätte er/sie nicht...Lange weiß der Leser überhaupt nicht, wie diese Personen, mit denen er es zu tun hat, zusammenhängen, geschweige denn, ob sie zusammenhängen. Das gibt dem Anfang über viele viele Seiten etwas Mysteriöses, aber auch Unverbindliches, bis man merkt, daß die Fallstricke des Autors einen längst zum automatischen Weiterlesen fest fixiert haben. Woran das liegt, fragt man sich beim Lesen selber.

 

Eine Antwort ist sicherlich, daß die Personen zwar wenig sympathisch geschildert sind, daß aber durch die Art und Weise, wie wir in ihre Gedanken und Gefühle eingebunden werden, im Leser so etwas wie Sympathie oder sogar Empathie entsteht. Vielleicht auch deshalb, weil wir ahnen, das kann nicht gut gehen, denn dieses ist das immer wieder formulierte Grundgefühl der handelnden Personen, mit denen wir endlich herausrücken wollen. Es beginnt mit einem völlig undurchschaubaren Mord, obwohl wir literarisch dabei sind. Ein Junge, ein Mädchen, ein Bruder, eine Schwester. Und der hinzukommende Deputy Sam Hartwick entlarvt sofort, daß hier vorgetäuscht werden soll, daß sich die beiden Geschwister gegenseitig erschossen haben, was aufgrund der Pistole in der Hand des Jungen nicht stimmen kann. Also vollendet er die Szenerie, in dem er die Pistole nun so artgerecht in des Jungen Hand bugsiert, daß diese Täuschung wasserdicht wird. Warum und weshalb? Das erschließt sich nicht, wie vieles, denn die Menschheit ist zwar vernunftbegabt, aber sie handelt meist entgegengesetzt.

 

In diesem Roman auf jeden Fall unaufhörlich. Jodie Larkin, die als Putzfrau arbeitet und der alles im Leben schiefgelaufen ist, ist in gewissem Sinn die Hauptperson. Mit ihr erleben wir ihren Gelddiebstahl beim Arbeitgeber, weshalb sie gleich mit ihrer Katze Nero – ja, sowohl schwarz wie auch in der Konnotation des römischen Kaisers und sie wird sie auf Seite 118 einfach im Tierheim 'entsorgen' – stiften geht, unterwegs ein Auto klaut und dorthin fährt, wo ihr Sohn Calvin, genannt Cal, mit seinen Adoptiveltern lebt, denn sie hatte ihn mit 17 Jahren bekommen und gleich zur Adoption freigegeben, jetzt aber will er seine Mutter sehen. Sie trifft ihn und nimmt ihn, der endlich seinen Vater kennenlernen will, mit auf die Reise gen Norden, die uns in ein eiskaltes, ständig verschneites Amerika versetzen mit Raststätten, die einen frieren lassen und glatten Straßen, die einen Unfall nach dem anderen produzieren.

 

Cal ist besonders verunsichert, weil er mitten in einer sexuellen Identitätskrise steckt. Er ist schwul, denkt er, aber so ganz genau weiß er es nicht oder besser: will es gar nicht wissen – oder doch nur etwas. Parallel arbeitet Sam Hartwick an der Aufklärung des Doppelmordes, was nicht ganz stimmt, denn seine Hauptsorge gilt seiner kranken Frau, der die Ärzte ihres Gehirntumors wegen nur noch kurze Lebenszeit geben. Da werden dann wirklich für einen Kriminalroman ungewöhnlich liebevolle Eheszenen geschildert, denen krass die Wirklichkeit des Lebens gegenübersteht. Denn die Ehefrau ist die Schwester jener Jodie, die aus bestimmten Gründen das Elternhaus seit der Geburt des Sohnes gemieden hat. Ja,ja, wir werden erfahren, warum, aber bis dahin passiert erst einmal für alle der geschilderten Personen sehr viel, von denen noch Wynn Johnston fehlt, ein mathematisches Wunderkind, der diese Wissenschaft am College studiert.

 

Er durchgeistert den Roman, obwohl er stärker als andere am Ort bleibt, aber er ist mehr als die anderen in verschiedene Seilschaften verstrickt. Da war sein Freund, nun tot, und dessen von Wynn angebetete Schwester, nun auch tot. Da kommt aber auch Erika ins Spiel, der er schon etwas unheimlich ist, die ihn aber beschützt. Irgendwas hat der Junge, daß die einen ihn bemuttern wollen und die anderen ihn verfolgen, wie diese Kriminellen und auch die Polizei. Und irgendwas hat er nicht, der Junge, der sich selbst der größte Feind wird, weil er seine Urängste so wenig beherrscht wie seine Mächte, sondern von diesen beherrscht wird. Ganz gegen die mathematische Logik übrigens.

 

Derek Nikita komponiert nun die einzelnen Personen wie in einer Symphonie zu einem vielstimmigen Chor, dessen Geraune man sehr viel früher verspürt, als die Handlungsfäden der einzelnen Leben dann endlich vor den Leseraugen zu dem Gewirr und Fitz werden, der unaufhaltsam dem Untergang zustrebt. Selbst diejenigen, die noch überleben dürfen, müssen mit dem Tod weiterleben, den sie sogar verhindern hätten können. Schuld und Sühne, Strafe und Verbrechen, eigentlich geht es um die kleinen Fallstricke des Lebens, wie aus der einen kleinen Sache eine ganz große wird, wie aus Zufall Schicksal wird, weil man sich ihm unterwirft. Traurig, traurig, aber wahr.

 

Opfer von Cathi Unsworth, erschienen im Suhrkamp Verlagfolgt auf Platz 6. Cathi Unsworth ist in Großbritannien eine bekannte Figur – als Journalistin in Musik- und Kunstmagazinen. In Opfer begibt sie sich zurück in ihren in „Ernemouth“ leicht zu identifizierenden Geburtsort Great Yarmouth. Mehr wissen wir noch nicht und kommentieren das nächstes Mal. Mit sechs neuen Krimis auf einen Schlag ist diese Aprilliste fast wie eine vom Mai, wo es doch heißt, alles neu macht der Mai.

 

Schau'n wir mal, wie es nächsten Monat aussieht. Auch der auf den siebten Platz eingerückte Krimi Mädchengrab von Ian Rankin, erschienen bei Manhattan, wird dann gewürdigt. Auf Platz 8 abgerutscht ist vom fünften Rang Die Farbe der Nacht von Madison SmarttBell von Liebeskind. Auf dem neunten Rang hat sich Paolo Roversi gehalten mit Milano Criminale, erschienen im Verlag Ullstein.

 

Auf Platz 10: Der Tod kommt nach Pemberley von P.D.James.

P.D.James, 92 Jahre alt, ungekrönte Queen des britischen old-fashioned Kriminalromans, hat Jane Austens Stolz und Vorurteil fortgeschrieben. Sechs Jahre nach der Hochzeit der Darcys wird Elizabeth’ Schwager Wickham angeklagt, seinen Reisegefährten im Wald vor Pemberley ermordet zu haben. Die Abgründe der präviktorianischen Standesgesellschaft tun sich auf: lieber einen Ehrenmord begehen als mit einem Bastard erwischt werden. Mehr das nächste Mal.

 

KrimiBestenListe April

 

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(2)

Joe R. Lansdale: Dunkle Gewässer

Aus dem Englischen von Hannes Riffel

Tropen, 320 S., 19,95 €

Ost-Texas, während der Großen Depression. Nachdem May Linns Leiche im Sabine River gefunden wurde, verbrennen ihre Freunde sie und transportieren die Asche den Fluss hinab. Fernziel: Hollywood. Die wilde Flucht der Jugendlichen erinnert an die von Huck Finn und Tom Sawyer, verläuft aber grotesker und brutaler als bei Mark Twain. Lansdale eben.

2

2

(3)

Elmore Leonard: Raylan

Aus dem Englischen von Kirsten Risselmann

Suhrkamp, 308 S., 19,95 €

Kentucky. Ob Nierenhandel, Umweltverbrechen oder Schusswechsel mit einer einarmigen Transe - US-Marshal Raylan Givens bleibt stets gelassen. Mit Gleichmut und schnellem Finger sorgt er für das, was er persönlich für Gerechtigkeit hält. Wie schon in der TV-Serie Justified, jedoch im Buch viel, viel abgefahrener.

3

3

(-)

Sara Gran: Das Ende der Welt

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Droemer, 368 S., 14,99 €

San Francisco/Brooklyn. Fünf Gitarren, ein Pokerchip, Schlüssel – schwache Hinweise auf den Mörder von Paul, Claire de Witts Exgeliebtem. Prekäre Autonomie der Detektivin: Claire zerstört sich fast auf der Suche nach Wahrheit, nach dem Kindertraum geliebt zu werden. Kaliforniens Norden: kalt und hip. Gran fasziniert.

4

4

(-)

Giancarlo de Cataldo: Der König von Rom

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

Folio, 176 S., 19,90 €

Rom 1976. Machtvakuum in der Hauptstadt. Nicht die Camorra, nicht die Marseiller, keiner hat die volle Kontrolle. Junggangster Libano am Scheideweg: Mit Giada, der bourgeoisen Revoluzzerin, in die Boheme oder mit Gewalt ans große Geld? Libano lernt Verbrechen. Ruppiges Vorspiel zu Romanzo Criminale.

5

5

(-)

Derek Nikitas: Brüche

Aus dem Englischen von Manfred Roth

Seeling, 328 S., 15,00 €

Cassadaga County, New York. Für 500 Dollar in den Klingelbeutel seiner Kirche rückt Deputy Hartwick eine Adresse heraus. Zwei Tage später sind sechs Menschen ermordet. Nikitas’ Welt: Hier wird schuldig, wer auch nur den Finger rührt. Familienzusammenführung bis zur Katastrophe. Düstere Wucht.

6

6

(-)

Cathi Unsworth: Opfer

Aus dem Englischen von Hannes Meyer

Suhrkamp, 384 S., 14,99 €

Ernemouth, Norfolk. Privatdetektiv Sean Ward, im Polizeidienst verkrüppelt, rollt den Fall der „Hexe des Ostens“ erneut auf. 1983: Teenie-Rivalitäten eskalieren im Ritualmord. 2003: Alte Säcke verteidigen die die liebe Macht. Tolles Brit-Stück. Perfekt reanimierte Gothic-Atmo. Unsworth wiederentdeckt.

7

7

(-)

Ian Rankin: Mädchengrab

Aus dem Englischen von Conny Lösch

Manhattan, 512 S., 19,99 €

Edinburgh/Rosemarkie. John Rebus kann es nicht lassen. Der Pensionär wühlt in ungelösten Altfällen. Vier Mädchen sind verschwunden, alle an der A 9. DI Siobhan Clarke assistiert halb widerwillig, der Verdächtige will nicht reden, da nimmt Rebus Gangster zu Hilfe. Rankin und Rebus – kommt gut.

8

8

(5)

Madison Smartt Bell: Die Farbe der Nacht

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Liebeskind, 238 S., 18,90 €

Los Angeles/Las Vegas/New York. Manson-Mythos trifft Elften September. Die sexy blutigen Zeiten liegen 30 Jahre zurück. Mae, einzig Überlebende der Family, gibt Karten in Vegas. Als die Türme fallen, gleitet die Todesgöttin zurück in antike Blutträume und Rachemuster. US-Gewalt-Metaphysik.

9

9

(9)

Paolo Roversi: Milano Criminale

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Ullstein, 464 S., 19,99 €

Mailand 1958 – 1971. Vandelli (10) und Santi (14) sind zufällig Zeugen des sensationellen Überfalls an der Via Osoppo. Der eine wird daraufhin Räuber, der andere Polizist. Nach dem Vorbild von Romanzo Criminale: die Geschichte Mailands als Kampf zwischen Staat und Verbrechern.

10

10

(-)

 

P.D.James: Der Tod kommt nach Pemberley

Aus dem Englischen von Michaela Grabinger

Droemer, 384 S., 19,99 €

Stolz und Vorurteil zum Zweiten. P.D. James’ Fortschreibung des Romans von Jane Austen als mystery novel entfaltet stilgenau präviktorianische Wirrnisse. Ein Mord am Vorabend des großen Balls auf Pemberley folgt aus Gentry-Zwängen um 1800: ein illegitimes Kind darf einfach nicht die Standesehre beschmutzen.

 

INFO:

Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.



Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenliste

- im NordwestRadio am Donnerstag, den 4.4. 2013 mit Tobias Gohlis gegen 8.50 Uhr im Nordwestradio Journal und in den Sendungen der Literaturzeit, nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html

  • in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 4.4.2013 und unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste

  •  

Monatlich wählen achtzehn auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 1200 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.



 Die Jury setzt sich zusammen aus: 

Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt

Volker Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR

Gunter Blank, Sonntagszeitung

Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau

Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Bremen, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist, Plärrer , culturmag, DradioKultur

 

 

In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Viermal inzwischen darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die Ende Dezember herauskommt. und die wir für 2012 ebenfalls kommentierten. 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/1208-der-beste-krimi-2012-bleibt-von-fred-vargas-die-nacht-des-zorns-aus-dem-aufbau-verlag



http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/1208-der-beste-krimi-2012-bleibt-von-fred-vargas-die-nacht-des-zorns-aus-dem-aufbau-verlag