Bildschirmfoto 2020 09 22 um 22.58.59Ende der Hulda-Trilogie von Ragnar Jónasson, bei btb

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Bisher waren die Besprechungen der ersten beiden Bände wahre Lobpreisungen. Die  unten angegebenen Links vom 8. Juni zu DUNKEL und zu INSEL vom 13. Juli zeigen dies und vermitteln die Vorgeschichte, die eigentlich die Nachgeschichte ist. Der Trick von Jónasson besteht erst einmal darin, daß er vom Ende her erzählt, wir also mit NEBEL - zehn Jahre vor dem zweiten Band - nicht mehr im Nebel stochern, sondern den Ursprung der Verlorenheit und Verzweiflung erfahren, die Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, zu so einer erfolgreichen Ermittlerin machte, denn mit jedem neuen Fall, den sie verbittert und verbissen löst - und sie löst sie alle! - trägt sie ihre Schuld ab, daß sie im eigenen Umfeld nicht genau hingeschaut hatte.

Was soll man sagen, geahnt haben wir allerdings die Ursache ihres Leid schon lange. Und das Problem einer Besprechung des nun dritten Bandes, der im Februar 1988 einsetzt, aber in dem Hulda klären muß, was kurz vor Weihnachten1987 gschah, dieser dritte Band löst alles auf, was bisher angedeutet oder vernebelt war. Insofern ist es seltsam, daß der letzte Band nun NEBEL heißt, wo doch die LICHTUNG das Thema ist, weil AUFKLÄRUNG angesagt ist... Der Nebel im Titel bezieht sich wohl auf den Schneesturm, das Schneetreiben, das im Osten des Landes auf einem völlig abgelegenen Bauernhof herrscht. Denn dorthin wird Hulda im Februar 1988 wegen des Auffindens mehrerer Leichen geschickt. Aber flugs sind wir in der Weihnachtszeit Wochen zuvor, sogar unmittelbar vor Heiligabend bei Erla und Einar in dieser Einöde, in der außer ihnen nur in dem zweiten Haus, das es die Straße hinunter gibt, ihre Tochter Anna wohnt. 

Das ist eine nette Frau, diese Erla, die liest von früh bis spät, was nur im Winter geht, denn ansonsten fordert die Landwirtschaft den beiden alles an Zeit und Kraft ab. Hätte sich Erla, damals das junge Ding aus der Hauptstadt, nicht so unsterblich in diesen schmucken, adretten Kerl aus dem fernen Osten verliebt, dann hätte sie diesen Schritt weg aus dem quirligen Reykjavík hin zur Abgeschiedenheit, ja Einsamkeit dieses Bauernhofes nie durchgezogen. Und sie sehnt sich nach der Großstadt, sehnt sich nach Leben, aber wenigstens hat sich ihre Entscheidung gelohnt, was Einar angeht. Denn die beiden lieben sich noch heute, er ist immer noch ein gutaussehender Mann und die gemeinsame Tochter Anna ist es sowieso wert, daß sie so weit draußen im Osten geblieben ist.  Leben im Kopf nennt man so etwas, was wir mit dieser netten Erla erleben, denn sie räsoniert ständig, erinnert sich unentwegt an Vergangenes, bewertet unaufhörlich ihr Leben und alles andere auch, formuliert nicht nur für uns, sondern erst einmal für sich selber, was sie für Weihnachten noch erledigen muß, was sie kochen will, an welche Geschenke sie noch denken muß, wie sie sich auf Anna freut, ein Gedankenstrom, der zwar nicht vergleichbar ist mit ULYSSES von James Joyce, aber doch als ständiger innerer Monolog durchgeht - und für uns auf Dauer schon ermüdend ist, weil es die Sorgen einer Hausfrau und Romanleserin ist, die keinen neuen Stoff hat, weil die 15 aus der Bücherei geliehenen Bücher alle ausgelesen sind, die Wetterverhältnisse aber verhindern, daß das Ehepaar das nächste Dorf aufsuchen könnte. Sie sind eingeschneit und die weiße Weihnacht wird lange währen.

Darum erschrecken sie zutiefst, alle beide, als es auf einmal an der Türe klopft und ein verfrorener, etwas ängstlicher Mann vor ihnen steht und sie um Hilfe bittet, denn er hat sich im Nebel - aha! - verlaufen. Er wirkt äußerlich sehr gepflegt, aber ist voller Unruhe, finden die beiden, die ihn hereinbitten, bewirten und sich seine Geschichte anhören. Er war auf der Jagd mit zwei Freunden, auf einmal werden es drei, dann kam der Schneesturm und er fand sich alleine und ging einen Weg, von dem er annahm, er führe wohin und hier sei er jetzt: in Sicherheit, aber unruhig, was die Freunde angeht. Ähnlich geht es seinen Gastgebern. Die fühlten sich an für sich sicher in ihrem Haus, aber werden nach und nach unruhig, weil der Fremde, der sich Leo nennt, so viele Ungereimtheiten von sich gibt und erst Erla und dann auch  Einar sich vor ihm fürchten. 

Nein, wir dürfen nicht weiterschreiben, weil jedes weitere Wort dem zukünftigen Leser das Vergnügen nimmt, selber unter Spannung das zu lesen, was passiert - und - schon wieder ein literarischer Trick - auf einmal ganz anders ist, denn wir sind mit dem Autor ja den ganzen Roman von 351 Seiten lang bis kurz vor Schluß der netten Erla und ihren Selbstgesprächen gefolgt. Da ist nun aber Hulda in ihrem Element und was die verschlafene örtliche Polizei nicht vermag, klärt Hulda und kann die Binnenstruktur von drei Toten, bei denen man nicht wußte, wer wen umgebracht hatte, eindeutig klären. Der Leser staunt. Aha, der Autor hatte einen ganz schön in die Irre geschickt, aber im Nachhinein ist das alles sehr logisch. Das gilt jetzt den durch Hulda aufgeklärten Mordfällen. 

Aber ihr Engagement wird ja immer durch ihre private Situation gespiegelt. Da wußten wir von Anfang an - denken Sie dran, der Schluß ist der erste Band - , daß sich ihre pubertierende Tochter umgebracht hatte und ob des Kummers Jahre drauf ihr liebevoller herzkranker Ehemann Jon, der ständig auf die Tabletten angewiesen ist,  an Herzversagen starb. Und da gibt uns Jónasson in den letzen Sätzen doch noch ein Schmankerl auf den Weg: "Was für eine simple Lösugn das wäre, wenn er einfach aufhören würde, seine Medikamente zu nehmen. Ja, das wäre das Beste für alle Beteiligten. Und bei diesem Gedanken ging es Hulda gleich ein wenig besser."

Damit haben wir eigentlich schon zuviel verraten. Bleibt die Frage, wie es Jonasson geschafft hat, konsequent rückwärts zu erzählen. Wir haben uns gedacht, das wäre eigentlich einfach, wenn er mit dem dritten Band angefangen hätte, der ja zeitlich der erste ist, dann den mittleren und am Schluß den ersten schreibt, die Trilogie aber in der umgekehrten Reihenfolge erscheint. Denn hat er wirklich rückwärts geschrieben, mußte er sich mit einem riesigen Zettelkasten alle wichtigen Ereignisse festhalten. Wir haben keine größeren Unstimmigkeiten festgestellt, bis auf die Situation, in der wir Hulda in hoffnungsloser Lage, in einem verschlossenen Keller zurücklassen, sie im nächsten Band  aber quicklebendig auftritt. 

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Info:
Ragnar Jónasson, Nebel, btb 2020
IBSN 978-3-442-75862-3

Bisherige Artikel
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19352-dunkel  vom 8. Juni 
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19561-insel   vom 13. Juli