garry hopeSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Oktober 2020 , Teil 1

Elisabeth Römer

Hamburg  (Weltexpresso) - Das deutete sich schon im September an, als Garry Disher mit HOPE HILL DRIVE direkt auf Platz 2 einstieg und nun vier Wochen später den Spitzenplatz innehat. Schon damals schrieben wir, wieviel man von ihm erwarten darf und daß er mit seinen verschiedenen Detektiven und Kommissaren und einem Berufsverbrecher aus zwei Verlagen immer etwas Besonderes bringt. Man darf ihn direkt als SUPERSTAR der Krimibestenliste bezeichnen, denn von 2005 bis 2019 standen wirklich zehn Titel von ihm auf der Bestenliste, DIRTY OLD TOWN behauptete sich  2013/14 gleich viermal hintereinander und ich kann mich genau erinnern, wie witzig das einem vorkam, als er 2019 mit HITZE von Pulp Master und KALTES LICHT aus dem Unionsverlag gleich zwei Titel auf der Krimibestenliste hatte. 
Doch, er ist wirklich etwas Besonderes, denn über eine so lange Zeit so hoch bewertet zu werden, natürlich nicht allein in Deutschland, sondern in der Welt, zeigt, daß zu guten Themen auch noch eine Menge Schreibdisziplin hinzukommt. Der Älteste seiner Profis ist der Berufsverbrecher Wyatt, der seit 1991 jeweils auf seine Art die Puppen zum Tanzen bringt und die Welt etwas gerechter machen will und kann! Inspector Challis und Ellen Destry ermitteln seit 1999 auf der Mornington Peninsula und da gibt es eine krude Mischung zwischen echten Kriminalfällen und dem, was eher als Sozialfall gelten sollte. Seit 2013 ist dasnn Paul Hirschhausen, der Hirsch hinzugekommen, der zwangsversetzt wurde, weil er die Verbandelung der Polizei in der südaustralischen Adelaide mit denen, die sie bekämpfen sollten, ansprach und bekämpfte und sich dadurch unbeliebt machte. Es ist immer mehr als eine Spur Moral dabei, aber die reibt Disher uns und seinem literarischen Personal nicht aufs Brot, sondern bringt das feinsinnig im jeweiligen Plot unter. 

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury und der, der das alles zusammenhält, hat aus der Jury etwas ausgeplaudert, was wirklich beeindruckend ist. Wir haben ihn wiederholt gefragt, wie die Juryergebnisse zustandekommen, weil es immer wieder mal Merkwürdigkeiten dab, daß Bücher als Senkrechtstarter ganz nach vorne vorstießen und dann beim nächsten mal unter den Tisch gefallen waren. Das liegt an der Art und Weise der Abstimmung, wo die einzelnen ihre Stimmen abgeben, die ja immer weniger sind als die große Anzahl der neuen Kriminalromane, die auf die Liste kommen können. So schreibt Gohlis: "Aus der Jury geplaudert: Oft reichen fünf bis sechs Stimmen, um einen Titel auf den ersten Platz zu heben. Diesmal haben 11 von 19 Jurymitgliedern  für Disher gestimmt  - eine überwältigende Mehrheit. Auf der Scuhe nach einem vergleichbaren hohen Abstimmungsergebnis mußte ich in den Unterlagen bis in den August 2019 zurückgehen. Da stimmten ebenfalls 11 Jurorinnen und Juroren mit exakt der gleichen krummen Punktzahl für - Garry Dishers KALTES LICHT. "

Schon am 24. August hatten die Kollegen Kai Spahnke und Hannes Hintermeier in der FAZ ein langes Interview mit Disher veröffentlicht, das mit der Frage nach Corona beginnt, was in Australien nicht anders als hier nur mit strengen Auflagen gemeistert wurde. Bisher. unter anderem wird der Autor befragt: "Welche Autoren haben Sie beeinflußt?" und antwortet: "Stilistisch haben mich Literaten beeinflußt, keine Genre-Autoren. Taymond Carver und Richard Ford sind hier zu nennen. Beide nutzen eine klare uns sprarsame Sprache. sie können mit nur wenigen Wroten eine enrome Wirkung erreichen. Was die Entwicklung des plots etrifft, verdanke ich John Sandford sehr ciel. Er komponiert raffinierte Handlungen und hat einigen Spaß mit den Nebenfiguren. Dann gibt es noch jene Autoren, die ich bwundere, ohne daß ich mir etwas von ihnen abgeschaut habe. Peter Temple gehört sicherlich in diese Kategorie." Verblüfft liest man als Journalistin dann die Frage: "Schreiben Sie immer noch mit dem Füller?" und noch verblüffter die Antwort: "Ja, kreatives Schreiben gelingt mir nicht mit der Tastatur. Viele Autoren sind abergläubisch. Ich benutze nur Stifte mit blauer Tinte und schreibe auf den Rückseiten alter Manuskriptseiten. Mit schwarzer Tinte würde isch die Magie verflüchtigen. Wenn ich meine handschriftlichen Aufzeichnungen in den Computer tippe, überarbeite und redigiere ich sie schon das erste Mal. Das ist quasi Handwerk der alten Schule." Erstaunlich. 

Und nun zur neuen Krimibestenliste, die nur fünf Romane vom September überleben läßt und fünf neue hinzufügt: drei US amerikanische, einen aus der Schweiz und einen aus Südkorea, von zwei weiblichen und drei männlichen Autoren, die zusammen 2580 Seiten ausmachen. Mehr das nächste Mal.


DIE KRIMIBESTENLISTE im Oktober 2020


1(2)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro

„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt,
Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher
Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, HauptstadtCops schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.


2(5)
Steph Cha
Brandsätze
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Ars Vivendi, 336 Seiten, 22 Euro

Los Angeles. 1991 wurde Afroamerikanerin Ava, 15, von der koreanischen Ladenbesitzerin Yvonne erschossen, 2019 wird diese selbst Opfer eines Attentats. Nach
einem realen Fall und Mustern en masse erzählt Cha vom Kampf zweier Familien
beim persönlichen Versuch, dem Fluch des Rassismus zu entgehen.


3(-)
Sara Sligar
Alles, was zu ihr gehört
Aus dem Englischen von Ulrike Brauns.
Hanserblau, 432 Seiten, 16 Euro

„Callinas“, Marin County. „Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind?“ Fotografin Miranda Brand hat sich den Kopf weggeschossen – oder doch nicht?
Archivarin Kate, weggemobt, traumatisiert, soll ihren Nachlass für Sohn und
Kunstwelt erschließen. Psychothriller, Künstlerinnenroman, feines Debüt.


4(1)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro

Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige
tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck:
Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik,
Liebe und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht frei zu sein.


5(-)
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes, 352 Seiten, 22 Euro

Raufarhöfn, Island. Kalmann vergisst viel und rechnet schlecht, aber sein Gammelhai ist der zweitbeste in Island. Als er am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt,
sagt er gleich Bescheid. Hat ein Eisbär Róbert gefressen? Einfühlsame Variante des
Topos „behinderter Detektiv“ in grandioser Landschaft.


6(4)
Parker Bilal
London Burning
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer.
Rowohlt, 494 Seiten, 12 Euro

London. Scharia-Fake? Die Frau des Immobilienmoguls Thwaite und ein Japaner
liegen gesteinigt in der Baugrube einer Luxuswohnanlage. DS Drake und Partnerin
ermitteln unter Gentrifizierungs- und Irak-Krieg-Traumatisierten, rechten
Schlägern und rechtgläubigen Migranten. London vor der Auflösung.


7(-)
James Ellroy
Jener Sturm
Aus dem Englischen von Stephen Tree.
Ullstein, 976 Seiten, 35 Euro

Los Angeles, Baja California 1942. Weltkrieg aus Ellroys LAPD-Blickwinkel. Nazis und Kommis planen Totalitarismus, Dudley Smith plant grenzüberschreitende
Verbrechen, Japaner werden interniert. Kriegswahnsinn. Man braucht schon sehr
starke Nerven für diesen zweiten Band des L.A.Quartetts Zwei.


8(-)
Marcie Rendon
Stadt, Land, Raub
Aus dem Englischen von Jonas Jakob.
Ariadne im Argument Verlag, 238 Seiten, 13 Euro

Fargo / Moorhead, etwa 1971. Nachts fährt Cash Rüben und spielt Billard, tagsüber geht sie aufs College, verwundet durch eine Kindheit in Zwangspflegschaft.
Prostitution, Akademiker und große Städte lernt die Native American erst richtig
kennen, als sie einen Essay-Preis erhält. Großartig.


9(-)
Un-Su Kim
Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Europaverlag, 582 Seiten, 24 Euro

Busan 1993. Guam – das ist Tradition, Strand, Verbrechen im Kleinformat. Für
Vater Son managt Huisu seit 20 Jahren dort das Hotel und die Deals, einsam und
besonnen achtet er die Regeln. Bis ihm Selbständigkeit winkt. Großes Sozial- und
Gangsterepos: Neu verdrängt Alt, Globalisierung steigert Gewalt.


10(10)
Scott Thornley
Der gute Cop
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet und
Andrea O’Brien. Suhrkamp, 524 Seiten, 16 Euro

„Dundurn“ am Ontariosee. Leichen im Hafenbecken, wo ein Museum Dundurns
Zukunft werden soll. Superintendent MacNeice ist gefragt, ein resoluter Diplomat
der Aufklärung, dem nichts entgeht. US-Veteranen, ein Biker-Krieg, dazu ein
Serienmörder – Mac hat zu tun in seinem ersten deutschen Fall.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?

An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Foto:
Cover

Info:
Besprechungen  der Krimibestenliste im August 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19720-lee-child-mit-der-bluthund-blanvalet-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19742-lauren-wilkinson-american-spy-tropen-verlag-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19708-eine-wahre-freundin-von-william-boyle-polar-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1

Besprechungen der Krimibestenliste im September 2020 
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19941-morduntersuchungskommission-der-fall-melchior-nikoleit-von-max-annas
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19940-tommie-goerz-meier-bei-ars-vivendi-auf-platz-9