bilal londonSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im November 2020 , Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im September auf Platz 4 der Bestenliste gestartet, kam Parker Bilals britischer Irak-IS-Muslim-Schocker LONDON BURNING im Oktober auf den 6. Rang und ist nun ausgeschieden, ohne daß wir stärker auf ihn eingegangen waren, was wir nachholen wollen, weil uns beim Lesen der verbrecherischen Schrecklichkeiten, mit denen die gemeinen Intrigen der Vorgesetzten gegen den aufrechten Cal (Khalil) Drake fast Schritt halten wollen, weil uns also auffiel, daß unsere deutschen Krimis sich mit den gegenwärtigen Gefährdungen seitens der Islamisten kaum beschäftigen. Woran liegt das?

Sicher, England und hier insbesondere London hat durch die vielen Einwanderungen aus den Kolonien – immerhin konnten die Bewohner dieser besetzten Länder dann auch in Großbritannien legal Fuß fassen – eine viel stärkere muslimische Bevölkerung als Deutschland, vor allem eine, die schon über Jahrzehnte naturalisiert war, aber dennoch bleibt af bilal parker 001die Frage, warum solch ein Krimi niemals in Deutschland spielen könnte. Erst einmal wegen der aufzuklärenden Verbrechen, und nur zu einem sehr kleinen Teil wegen der Polizeistrukturen. Auch hier sind diese gegenwärtig unter Rassismusverdacht und Rechtsradikalismus nicht so sauber wie behauptet. Wie es aber gesellschaftlich aussehen wird, wenn nicht auf beides geachtet wird und notwendige Änderungen durchgesetzt werden, dafür ist dieser Krimi ein richtig gutes Beispiel.

Parker Bilal? Nicht schlimm, wenn man den Namen nicht kennt, denn er ist ausgedacht; ist das Pseudonym des britisch-sudanesischen Autors Jamal Majoub, der wohl vor allem in Kairo ermitteln läßt. Und wenn man die kurzen Angaben im Buch liest: in London geboren, aufgewachsen in Khartum, der Heimat des Vaters, hat er für seine Schriftstellerei viele Auszeichnungen erhalten und – das finden wir das Spannendste – lebt nach vielen Jahren im dänischen Aarhus jetzt in Barcelona. Und da kamen wir im Internet nicht weiter, denn das hätte uns interessiert, wieso Aarhus? Meist steckt eine Frau dahinter. Und Barcelona. Aber diesen Krimi muß ein anderer weiterschreiben.

LONDON BURNING ist sehr gegenwärtig und wenn man das bunte London kennt, zutreffend aktuell. Weil eine Serie um den – bis jetzt – polizeilichen Ermittler Cal Drake und die forensische Psychologin Ray (Rayhana) Crane, die einander in diesem Krimi kennenlernen, folgen soll, stellen wir beide erst vor: Cal Drake kommt aus mehr als schwierigen Verhältnissen. Die Mutter macht alles falsch, macht auch den falschen Mann zum Vater von Cal, der in einer wirren Szene im Buch auch kurz auftaucht, sonst aber im Leben des Sohnes nicht vorkommt. Die Mutter auch nicht mehr, denn sie ist jämmerlich gestorben. Ein Stachel im Fleisch von Cal, der nirgends zu Hause ist und bevorzugt in seinem Auto schläft. Das allerdings aus Ermittlungsgründen, denn unter seiner Wohnung lebt eine durchaus verführerische Malerin, die es auf ihn abgesehen hat, aber wir ahnen schon wo die Reise des einsamen Wolfes in einem der nächsten Romane hingeht: in die Arme der taffen Ray.

Die ist wirklich eine Nummer und wenn Cals Mitarbeiterin, die forsche Kelly, sie Catwoman nennt, ist das nicht falsch. Denn sie ist eine Mischung aus Intelligenzbolzen, fachliche Expertin, Schönheit, Amazoneneigenschaften, denn sie nimmt es körperlich mit Tricks mit jedem Mann auf, daß sie zudem mit dem Motorrad durch London brettert, kommt hinzu. Die Frau Doktor hat eine eigene Praxis in einem eigenen Haus und wie sie an dieses geriet ist auch der Wunschtraum jeglicher hart arbeitenden Journalistin. Alles zusammen macht sie auch für Cal interessant, zumal sie ihm am Ende des brennenden Londons das Leben rettet. Und umgekehrt. Cal ist nun eine interessante Figur, die man im Lauf des Romans erst kennenlernt, denn innerhalb der Polizei geht ihm ein schlechter Ruf voraus, den er sich ‚erarbeitet‘ hat, aber in den er wohl eher durch Intrige geriet: Korruption, Bestechung und vor allem, daß er eine Zeugin ans Messer lieferte. Gut geschrieben, daß dies nicht gleich schlüssig aufgeklärt wird, sondern als Grundton Thema bleibt. Aber der Leser gewinnt sowieso einen anderen Eindruck. Denn Cal Drake ist im Sinn der amerikanischen noir-Krimis der beinharte Ermittler, der nicht aufgibt und allumfassend ermittelt, nicht ißt, wenig schläft, gerne und zuviel trinkt und auf Frauen ausgesprochen wach reagiert.

Intrigant und Kriegsgewinnler ist Detective Chief Inspector (DCI) Pryce, der auf einmal Drakes Chef wurde, weil dieser erst in die Provinz strafversetzt, jetzt durch den Obervorgesetzten Wheeler immerhin den Mord, die Morde aufklären darf. Bewährungsprobe gewissermaßen.

Von diesen beiden kann man also noch viel erwarten. Schaurig beginnt es mit den aufgefundenen Toten, einem Mann, einer Frau, die auf einer großen Baustelle  namens Magnolia Quays unter einem Steinberg von diesen erschlagen wurden. Sie waren aneinander gefesselt und hatten einen Sack über dem Kopf. Sie ist Marsha, die Ehefrau des indischstämmigen Howard Thwaite, der Großbaustellen verantwortet und der auch für Magnolia Quays zuständig ist. Der Mann, Tei Hideo, französischer Staatsbürger japanischer Herkunft, wohnt seit drei Jahren in London mit interessanter Biographie als Bergsteiger und Kunstsammler. Hatten die zwei was miteinander, was man erst mal denkt, zumal, wenn man an Steinigungen denkt, die ja in der Scharia eine Strafe für außereheliche Beziehungen ist.

Aber die beiden kannten sich nicht, heißt es lange, bis als gemeinsames Schicksal eine Entführung mit Lösegeld im Irak bekannt wird. Damals war die Ermordete, eine Jüdin, noch die geheime Affäre von Thwaite, von dem man Geld für ihre Freilassung verlangte. Und überhaupt liegt die Ursache von allem im Irak, in dem dortigen Einsatz englischer Soldaten, Mißmanagement und privaten Rachezügen, was potenziert wird durch verwilderte orientierungslose jugendliche Muslime in London. Eine Horrorgeschichte, die Folgen hat.

Parker Bilal gelingt es vorzüglich, diese vielen Stränge am Laufen zu halten, sie zu verschränken, abzuschneiden oder neu zu binden. Erst im Nachhinein haben wir in diesem 492 Seiten starken Roman den Untertitel gelesen: Crane & Drake ermitteln. Deshalb haben wir auch stärker diese beiden vorgestellt, von denen man noch Spannendes und über den Tag Hinausgehendes erwarten darf.

PS. Ausgeschieden sind neben LONDON BURNING, James Ellroy mit JENER STURM, erst im Oktober auf die Liste gekommen und DER GUTE COP von Scott Thornley, seit September auf der Liste. 



KRIMIBESTENLISTE NOVEMBER 2020

1(-)
Denise Mina
Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig.
Ariadne im Argument Verlag, 352 Seiten, 21 Euro

Glasgow. Ein Raubüberfall mit Todesopfer, ein alternder Labour-Politiker in Seitensprung-Kalamitäten, Polizisten mit Bergen von Bestechungsgeld, ein moralisch unsicherer Erbe – alles ganz normal. Die Serie um Detective Alex Morrow: das hellwache Porträt einer starken Frau und ihrer chaotischen Stadt.

2(1)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro

„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt.Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, HauptstadtCops schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.

3(9)
Un-Su Kim
Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Europa Verlag, 582 Seiten, 24 Euro

Busan 1993. Guam – das ist Tradition, Strand, Verbrechen im Kleinformat. Für Vater Son managt Huisu seit 20 Jahren dort das Hotel und die Deals, einsam und besonnen achtet er die Regeln. Bis ihm Selbständigkeit winkt. Großes Sozial- und Gangsterepos: Neu verdrängt Alt, Globalisierung steigert Gewalt.

4(5)
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes, 352 Seiten, 22 Euro

Raufarhöfn, Island. Kalmann vergisst viel und rechnet schlecht, aber sein Gammelhai ist der zweitbeste in Island. Als er am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt,sagt er gleich Bescheid. Hat ein Eisbär Róbert gefressen? Einfühlsame Variante des Topos „behinderter Detektiv“ in grandioser Landschaft.

5(3)
Sara Sligar
Alles, was zu ihr gehört
Aus dem Englischen von Ulrike Brauns.
Hanserblau, 432 Seiten, 16 Euro

„Callinas“, Marin County. „Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind?“ Fotografin Miranda Brand hat sich den Kopf weggeschossen – oder doch nicht?Archivarin Kate, weggemobbt, traumatisiert, soll ihren Nachlass für Sohn undKunstwelt erschließen. Psychothriller, Künstlerinnenroman, feines Debüt.

6(-)
Robert Brack
Dammbruch
Ellert & Richter, 240 Seiten, 12 Euro
Hamburg, Februar 1962. Dämme brechen, das Wasser steigt, wer wird überleben?

Tresorknacker Lou will mit Goldschatz nach Kuba. Der junge Piet wird zum Lebensretter. Betty bekämpft ihre bösen Erinnerungen mit der Garotte. Die Fluten reißen alles mit. Mittendrin die kleinen Kämpfe ums Überleben. Echt.

7(8)
Marcie Rendon
Stadt, Land, Raub
Aus dem Englischen von Jonas Jakob.
Ariadne im Argument Verlag, 238 Seiten, 13 Euro

Fargo / Moorhead, etwa 1971. Nachts fährt Cash Rüben und spielt Billard, tagsüber geht sie aufs College, verwundet durch eine Kindheit in Zwangspflegschaft. Prostitution, Akademiker und große Städte lernt die Native American erst richtig kennen, als sie einen Essay-Preis erhält. Großartig.

8(4)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro

Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck:Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik,Liebe und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht, frei zu sein.

9(2)
Steph Cha
Brandsätze
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Ars Vivendi, 336 Seiten, 22 Euro

Los Angeles. 1991 wurde Afroamerikanerin Ava, 15, von der koreanischen Ladenbesitzerin Yvonne erschossen, 2019 wird diese selbst Opfer eines Attentats. Nach einem realen Fall und Mustern en masse erzählt Cha vom Kampf zweier Familien beim persönlichen Versuch, dem Fluch des Rassismus zu entgehen.

10(-)
Éric Plamondon
Taqawan
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos, 208 Seiten, 22 Euro

Restigouche, Québec. 1981 zerreißen Polizisten die Lachsnetze der Mi’gmaq, die fünfzehnjährige Océane wird vergewaltigt. Zwei Einzelgänger, Ranger Leclerc und Mi’gmaq William, helfen dem Opfer, klären auf und üben Rache. Knapp, aber oho: Essay über weißen Kolonialismus und strukturelle Gewalt – als Krimi.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?

An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Foto:
Cover

Info:
Parker Bilal, London Burning, rororo 2020
ISBN 978-3-499-00218-2

Besprechungen  der Krimibestenliste im August 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19720-lee-child-mit-der-bluthund-blanvalet-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19742-lauren-wilkinson-american-spy-tropen-verlag-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19708-eine-wahre-freundin-von-william-boyle-polar-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1

Besprechungen der Krimibestenliste im September 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19941-morduntersuchungskommission-der-fall-melchior-nikoleit-von-max-annas
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19940-tommie-goerz-meier-bei-ars-vivendi-auf-platz-9

Besprechungen der Krimibestenliste im Oktober
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20046-auf-platz-1-garry-disher-mit-hope-hill-drive-aus-dem-unionsverlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20047-uebersicht-ueber-die-fuenf-neuen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20071-american-spy-der-bluthund-blues-in-new-iberia-paradise-city-meier
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20072-marcie-rendon-stadt-land-raub-auf-platz-8

Besprechungen der Krimibestenliste im November
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20334-auf-platz-1-geschossen-goetter-und-tiere-von-denise-mina-ariadne
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20335-brandsaetze-von-step-cha-ars-vivendi-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20340-nicht-mehr-dabei-london-burning-von-parker-bilal-rowohlt