Bildschirmfoto 2020 12 07 um 23.10.00Mick Herron, DEAD LIONS, Diogenes Verlag, Teil 1/2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sachen gibt‘s, die gibt‘s gar nicht! Und manchmal ist es nur eine Kleinigkeit, die einen vor einer derben Blamage bewahrt, wie eben meine Hamburger Kollegin Elisabeth Römer mich! Danke. Und gleichzeitig ist das ein Beweis für die Schnellebigkeit der Zeit, hier der Krimizeit, die unaufhörlich neue Krimis hervorbringt, in allen Sprachen, wobei hierzulande die englischsprachigen, die skandinavischen und Gottseidank auch die deutschen besonders gekauft und gelesen werden.

Doch sind die meistverkauften in der Regel nicht die besten! Das ist halt so. Ist wirklich so und damit sich die echten Krimileser auch beim Kauf orientieren können, gibt es die KRIMIBESTENLISTE, die in WELTEXPRESSO von Anfang an monatlich aus Hamburg veröffentlicht und aus Hamburg mit vielen eigenen Beiträgen kommentiert wird. Darüber wollten wir schon länger ausführlich schreiben, aber jetzt geht es um die Fast-Blamage. Zuständig für die Kriminalromane ist in unserer Redaktion die Hamburger Kollegin Elisabeth Römer, die auch die Liste insgesamt kommentiert, aber froh ist, wenn auch andere dann richtige Rezensionen schreiben, wie jüngst ich selber, weil ich an bestimmten Autorinnen einen Narren gefressen habe – jetzt Dominique Manotti, Denise Mina, grundsätzlich Fred Vargas, auf deren nächsten Krimi ich schon seit Jahren warte! Und als ich auf der Dezemberliste Liste den Engländer Mick Herron entdeckte, der über Geheimdienstliches schreibt, fiel mir ein, daß ich den gerade im Stapel noch nicht gelesener Krimi-Literatur in der Redaktion entdeckt hatte. Ganz oben. Also neu.

Ich nahm also DEAD LIONS vom Stapel, wußte ja, es ist ‚Ein Fall für Jackson Lamb‘, weil ich den ersten SLOW HORSES gelesen hatte, der mir gut gefallen hatte, denn er ist auch als Einstieg in den englischen Geheimdienst richtig gut geeignet. Ist Ihnen eigentlich mal aufgefallen, daß wir Leser und Leserinnen über keinen Geheimdienst der Welt so viel wissen, wie über den englischen, ob wirklich oder gut erfunden, tut jetzt nichts zur Sache, denn die erfundenen sind ja nur dem Inhalt nach erfunden, gut, auch den handelnden Personen nach, aber die geschilderten Strukturen sind echt und die Inhalt und Personen meist den echten nachempfunden! Und als ausgewiesene Liebhaberin von John le Carré und als eine der wenigen, die schon in frühen Jahren alle James Bond, Agent 007- Romane von Ian Fleming gelesen hatte – Casino Royal von 1953 ist der erste, bis zu seinem Tod folgten elf weitere Romane und neun Kurzgeschichten – bin ich im englischen Geheimdienst sozusagen zu Hause. Ich kenne auch die für mich stärksten über Philby, Porträt des Spions als junger Mann, von Robert Littell – aber natürlich auch die James Bond Filme, die ich, seit Daniel Craig ihn seit 2006 verkörpert, auch alle besprochen habe.

Wir alle wissen also eine Menge inWort und Bild über den englischen Geheimdienst, aber haben Sie sich mal gefragt, wieso das so ist und genauso weitergefragt, warum so viele russische Oligarchen nach England gezogen sind und notfalls Fußballvereine kaufen, warum so viele russische Spione dort aufgetan werden, warum so viele durch russisches, kaum nachweisbares Gift ermordet worden sind? In London, nicht in Paris, Wien, Madrid, Berlin, New York!

Wenn es um internationale Geheimdienstfilme geht, die früher im viergeteilten Berlin, dem Hot Spot des Kalten Krieges, aus dem drei Teile Westberlin und ein Teil Ostberlin wurden, als dem Zentrum von Spionage und Gegenspionage dienen mußten, ging es im Kern um die USA und die UdSSR und noch heute ist der amerikanisch-russische Konflikt auch in Geheimdiensten gegenwärtig, ja spielte sogar eine entscheidende Rolle im Wahlkampf Clinton-Trump und erneut Trump-Biden, wobei Rußland jeweils Trump näher stand und steht.

Aber darum geht es jetzt nicht, es geht um Großbritannien und den englischen Geheimdienst, der weltweit überhaupt den Spionageroman konstituiert, wie es übrigens schon die ‚normalen‘ Kriminalromane als Polizei- und Verbrecherromane von Arthur Cannon Doyle und Agatha Christie historisch vorgemacht hatten.


Die Struktur des englischen Geheimdienstes

Wir kennen in der Regel den MI 5 und den MI 6. Dabei steht MI für Military Intelligence und die Ziffern 5 für den Inlandsgeheimdienst und die Ziffer 6 für den britischen Auslandsgeheimdienst, der auch SIS genannt wird, was Secret Intelligence Service bedeutet. Man geht also bei beiden Bezeichnungen von der Intelligenz der Institution, bzw. ihres Personals aus! Übrigens gab es bei der Gründung des Secret Service Bureau 1909 außer MI5 und MI6 noch 17 weitere Geheimdienste und – das kann man nachlesen – der MI6 war ursprünglich gar nicht für die Auslandsspionage zuständig, sondern für die Marine, mauserte sich aber dann, vielleicht weil die Schiffe gut andere Länder erreichten und Seeleute ja sehr kommunikativ sind und erfolgreich Auslandsspionage tätigten, zu dem Auslandsgeheimdienst SIS.

Der schon oben erwähnte Kim Philby, der übrigens vom MI5 geführt wurde, so durcheinander ist es im Einzelfall, ist das Paradebeispiel für einen Doppelagenten, der nicht aus materiellen, sondern ideellen Gründen Doppelspionage betrieb. Philby - mit einem interessanten kolonialen Hintergrund – kam schon im Studium 1930 mit Guy Burgess in Kontakt, der ihm wie drei weiteren den Kommunismus so nahe brachte, daß die sogenannten CAMBRIDGE FIVE später wichtige Posten im Auslandsgeheimdienst besetzten und dies zur Weitergabe der Geheimnisse an die UdSSR nutzten. Burgess floh mit einem weiteren der Fünf rechtzeitig nach Moskau, wo sie hoch geehrt wurden und wo auch George Blake lebte, ein weiterer Schlag für den SIS, den er war der, der den durch USA und England gebauten Geheimtunnel zwischen West- und Ostberlin den Russen verriet. Man kann also durchaus davon sprechen, daß die vielfachen literarischen Bearbeitungen des englischen Geheimdienstes so etwas wie Korrekturen der kompromittierenden Wirklichkeit waren und sind.

Bei jedem englischen Roman, wo es um den MI 5 oder den MI6 geht, muß man wissen, daß der obige Hintergrund für englische Leser Allgemeinwissen ist.

FORTSETZUNG FOLGT

Foto:
Mick Herron
©mickherron.com

Info:
Mick Herron, Dead Lions. Ein Fall für Jackson Lamb, Diogenes Verlag 2019
ISBN 978 3 257 07 046 0