Deut-sche Sprach schwäre Sprach

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) –  An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber keiner wollte ihn an die Hand nehmen. Das sollten wir aber, immer zu zweit. Es ergab sich, dass kein Junge ein Mädchen an die Hand nahm. Umgekehrt sowieso nicht. Er war übrig geblieben – und ich. Wir waren die beiden letzten, die – Hand in Hand – in unser erstes Klassenzimmer traten. Die Holzbänke waren damals noch verbunden mit den Holztischen. Auf diesen eingelassene Tintenfässer, jetzt noch trocken, weil das ABC noch mit Schiefergriffel auf Schiefertafel geübt werden sollte.


Ja, ich habe als Schüler noch die Steinzeit erlebt! In dieser aber etwas, das im „Wisch-und-Weg“-Zeitalter digitaler Lernmethoden abhanden zu kommen droht.


Er hatte einen weißblonden Stoppel-Kopf, und er wollte meine Hand auch dann nicht loslassen, als wir schon nebeneinander saßen. Das hatte sich auf Weisung von Fräulein Vogel zu ändern. An deren Namen erinnere ich mich, sie sorgte von Anfang an für Zucht und Ordnung. Die Weisung bestand darin, unsere Hände während dieser ersten Belehrung ständig hinter dem Rücken gekreuzt zu halten – das sorge für eine aufrechte Haltung!

Kurz vor den ersten Oster-Ferien waren die meisten schon so weit, Fräulein Vogel nacheinander eine Schulbuch-Geschichte vorzulesen. Im Abschnitt für meinen Sitznachbarn kam zum ersten Mal der Osterhase vor, in seiner Verkleinerungsform!
Wir hatten uns inzwischen angefreundet. Er wohnte mit seiner Familie im „Rumänen-Lager“, einer Barackensiedlung für Ost-Flüchtlinge am Dorfrand. Dort sprach niemand Deutsch. Ich hatte zu Hause schon in Opa Haydns Bibliothek stöbern dürfen und mir dabei mehr Lesen beigebracht als Fräulein Vogel verlangte. Das übten wir zusammen bei eingemachten grünen Tomaten und scharfer Paprika, die es im dörflichen KONSUM gar nicht zu kaufen gab.

Jetzt hörte ich wie auf der Schulbank neben mir beim weiteren Vorlesen ein „Osterhä---schen“ herauskam. Die Klasse wieherte los. Mein neuer Kumpel blickte erschrocken zu mir. Ich hatte von Opa Haydn einen Bleistift geschenkt bekommen. Mit dem schrieb ich eilig an den Rand meiner Buchseite: HÄS---CHEN. Er kapierte rasch und wiederholte das Wort, diesmal korrekt. Fräulein Vogel nutzte die Gelegenheit, Wortendungen für Verkleinerungen zu erläutern: z.B. ...chen!

Wochen später war mein Banknachbar wieder dran mit Vorlesen. Wir hatten inzwischen vereinbart, dass ich ihn mit dem Fuß anstoßen würde, käme es wieder zu einer kniffligen Verkleinerung.

Diese Sprachfalle hatte ich allerdings nicht rechtzeitig erkannt. Er las betont: „Kirs---chen“, ich hatte keinen Anlass gesehen, ihn vor „Kirschen“ zu warnen.

Wenn ich heute Texte lese, in denen mitten in Wörtern unverhofft Sternchen, Gedankenstriche, Semikolons, Grossbuchstaben auftauchen, frage ich mich, wie oft Menschen, die zu uns kommen, wieder sagen werden: „Deut-sche Sprach schwäre Sprach“.



Foto:
© KJS

Info:
http://www.radiobridge.net/KJS%20Stories.html