Rossmarkt Ende der 70er„Frankfurt liest ein Buch“ hat sich für 2022 festgelegt

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Bei der Entlarvung und historisch korrekten Einordnung des NS-Staats kommt der Literatur, insbesondere Autobiografien und authentischen Romanen, eine wichtige Rolle zu.

Ob Irmgard Keuns Roman „Nach Mitternacht“ das leisten kann, ist jedoch umstritten. Denn es handelt sich um fiktive Lebensgeschichten aus dem Alltag normaler Leute, also von Mitläufern, Anhängern und Widerständlern. Eine Gesamtschau oder Gesamtdeutung hat die Autorin nach Einschätzung der Literaturwissenschaft nicht beabsichtigt. Walter Killys „Deutsche Literaturgeschichte“ sieht deswegen auch keine „differenzierte Analyse der politischen und gesellschaftlichen Strukturen hinter der Alltagswirklichkeit“. Das eröffnet Interpretationsfreiräume, die sich beispielsweise in Barbara Bürks Theaterinszenierung zeigen, die gegenwärtig im Schauspiel Frankfurt gespielt wird. Judith von Sternburg hat in der FR am 20. September in ihrer Kritik auf die Ambivalenz der literarischen Vorlage hingewiesen, die sich in der Bühnenfassung Bahn bricht: „Nicht nur die ironisch heroischen Tableaus, mit denen das Nazitum der Lächerlichkeit preisgegeben wird, hinterlassen den Nachgeschmack, dass das Flotte und Distanzierte am Ende lediglich einen Zipfel der Welt erfasst, der Roman »Nach Mitternacht« aber weit mehr davon.“

Möglicherweise waren solche Überlegungen der Grund für die Jury von „Frankfurt liest ein Buch“, den Roman zum Vorlesebuch des Jahres 2022 zu küren. Allerdings: Erzählungen über diese Zeit des Ungeists und des Terrors, vielfach von Augenzeugen verfasst, waren bereits mehrfach Gegenstand des sogenannten Lesefests. So Valentins Sengers „Kaiserhofstraße 12“ (2010), Silvia Tennenbaums „Straßen von gestern“ (2012), Mirjam Presslers „Grüße und Küsse an alle“ (2015) und Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“ (2018). Darum frage ich mich, ob in Frankfurt politische Skandale erst dann ein Thema sein dürfen, wenn das Geschehen weit zurück liegt. Haben die Juroren möglicherweise Angst vor jener Literatur, die ihre Finger in die offenen Wunden unserer Tage legt?

Eckhard Henscheids „Die Vollidioten“ (2014) war eine eher unpolitische Milieuschilderung, Herbert Heckmanns „Benjamin“ (2017) und Martin Mosebachs „Westend“ (2019) spielten in einem erkennbar synthetischen Frankfurt, in Erich Kubys „Rosemarie“ (2020) waren einige Frankfurter Straßennamen das einzige Lokalkolorit. Bei Eva Demskis „Scheintod“ (2021) wurde dem gut informierten Leser nicht klar, ob es sich um die Abrechnung mit dem Ex-Ehemann oder um eine unbeholfene Auseinandersetzung mit der RAF-Zeit handelt. Siegfried Kracauers „Ginster“ (2013) war ein lesenswerter Roman über Autobiografisches während des Ersten Weltkriegs. Aber das Buch verstellte den Blick auf ein viel wichtigeres aus der Feder des Autors. Nämlich auf „Die Angestellten“, eine Milieustudie über Arbeitnehmer am Vorabend des Dritten Reichs. Wilhelm Genazinos „Abschaffel“ (2011) dürfte der literarischste Roman von allen gewesen sein, der jemals auf den unterschiedlichsten Bühnen von „Frankfurt liest ein Buch“ dargeboten wurde und der die Spießerexistenz eines fiktiven Durchschnittsarbeitnehmers zum Inhalt hat. Politisch im Sinn von investigativer Offenlegung des ewigen Mitläufers, der sich in sämtlichen Systemen über Wasser hält, ist diese Trilogie jedoch nicht.

Diese Auflistung könnte tatsächlich die Mutmaßung nahe legen, dass Frankfurt literarisch aus der Zeit gefallen ist. Zwar sei die Welt auch hier nicht in Ordnung, aber dieser Zustand dringe nicht vor bis zu den ehrwürdigen Literatursponsoren, die Distanz und Beschaulichkeit als Credo einer Stadtgesellschaft zu definieren scheinen.

Denn während sich Normalverdiener und auch die etwas besser Verdienenden eine Wohnung in der Mainmetropole kaum noch leisten können und die Verdrängung längst eingesetzt hat, erinnert sich keiner der Literaturkundigen beispielsweise an Gerhard Zwerenz‘ Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ (1973), der die Vorlage abgab für Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, dessen für den 31.10.1985 geplante Uraufführung durch die Besetzung der Bühne in den Kammerspielen verhindert wurde. Sowohl der Roman als auch das Theaterstück passten als kritische Selbstreflexion in die Stadt und in die Zeit.

Ebenso gut passen würden Peter Kurzecks Romane, in denen er atemlos durch Frankfurt eilt, meist zu Fuß oder per U-Bahn und S-Bahn. Immer seiner nicht angetrauten Partnerin sowie seiner kleinen Tochter auf den Fersen und sich überall selbst im Wege stehend. Es sind Romane von unendlicher Traurigkeit, aus deren Zeilen jedoch ständig Hoffnung fließt auf bessere Zeiten und in denen selbst die Niederlagen als zu akzeptierende Stationen einer persönlichen Entwicklung erscheinen. Ja, das Tempo dieser Erzählungen muss durch einen professionellen Vortrag auf die Zuhörer übertragen werden. Aber wo bedarf es denn keiner sprecherischen Grundbegabung?

Auch Jörg Fausers Romane über die Randständigen, die in den gesellschaftlichen Schatten Gedrängten, passten in diese Stadt der unbegrenzten Widersprüche.

Frankfurt könnte viele Bücher lesen, die ungeschminkt über seine Abwege und Irrwege Auskunft geben. Nicht als Beigaben zu einer Beerdigungszeremonie, sondern als Start zu einem kulturellen Aufbruch, der gleichzeitig die Metaebene einer gesellschaftlichen Neubesinnung wäre.

Foto:
Roßmarkt Ende der 1970er Jahre
© MRG