totsuck araiSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Februar 2022, Teil 5

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Mit Denise Mina hatten wir uns Zeit gelassen. TOTSTÜCK kam im Januar auf die Liste auf Platz 9 und wir wußten, daß sie auf der Liste bleibt und sich steigert. Der erste Rang im Februar zeugt davon. Und man kann beim und nach dem Lesen gut verstehen, warum das so ist.

Das ist ein Roman, der Sie unmittelbar packt, was gar nicht mal mit dem Genre Krimi zu tun hat, sondern mit den Begleitumständen, aus denen heraus die Figuren handeln. Hier sind es zwei Frauen, deren eigentlich sehr unterschiedliche Leben an einem Punkt zusammenläuft: unbekannte, potentielle Verwandtschaft. Und das kommt so. Die Adoptivmutter der Ärztin Dr. Margo Dunlop ist gerade gestorben, die der Adoptivtochter nie verraten konnte, wer ihre leibliche Mutter sei. Sagte sie. Nun findet Margo in der Schublade des Nachttischs der Verstorbenen Briefe von einer gewissen Nikki, die darauf schließen lassen, daß dies die Schwester ihrer Mutter Susan sei, die schon vor 30 Jahren von einem Serienkiller a la Jack the Ripper umgebracht worden sei.

Die Briefe klingen wirre, aber natürlich will Margo endlich wissen, was Sache ist und nimmt den Kontakt auf. Eine Hauptrolle spielt aber auch die Glasgower Polizei. Aus mehreren Gründen. Eine Vermutung, die Nikki laut aussprechen wird, ist, daß dieser Frauenmörder von damals selbst Polizist gewesen sei. Die ganze Polizei sei betroffen,denn sie habe nie richtig nach dem Mörder gesucht. Schließlich ginge es nur um TOTSTÜCKE. Da wir im Deutschen diesen Begriff nicht kennen, ihn aber sofort identifizieren mit toten Stücken, ist der Hinweis wichtig, daß im Englischen solcherweise die Ermordeten aus dem Prostituiertenmilieu bezeichnet werden.

Tobias Gohlis, dem Sprecher der Jury der Krimibestenliste, verdanken wir zudem den etymologischen Hintergrund für diesen Sprachgebrauch im Englischen, was wir in der unteren Anmerkung weitergeben. Schlimm, aber man glaubt sofort, daß bestimmte Personen diese entwürdigende Sprache gebrauchen. Interessant ist nun, wenn die so unterschiedlichen Frauen, unterschiedlich eben wegen ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrem bisherigen Leben, aufeinandertreffen, denn beide haben jeweils massive Vorurteile der anderen gegenüber. Margo glaubt der Tante erst mal nicht so richtig oder auch überhaupt nicht und Nikki hat viel zu viel Angst, ein potentielles Opfer zu sein, denn er schlägt wieder zu, dieser Serienkiller, der nach Jahrzehnten sich durch Mord und Mordandrohung zurückmeldet. . Zumindest auch in Briefen an Margo, die ihr klar machen, daß eine reine innerliche Abwehr des von der Tante Gehörten nicht langt. Das da was los ist.

Nein, sie ist kein Goldkind, diese Margo und da sie als Erzählfigur fungiert, bekommen wir ihre Vorurteile und ihre Spießigkeiten voll mit, auch ihre Ängste, aber doch auch ihre emotionale Lernfähigkeit, wenn sie nach und nach erkennt, daß es bei den toten Prostituierten gewissermaßen um Schwestern geht, die allein aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Tätigkeit ermordet werden. Insofern übernimmt Margo ganz sicherlich die Rolle der meisten Leserinnen.

Natürlich kann man mehr erzählen, aber es ist diese Ausgangssituation, die zwangsläufig, da Margo aufwacht und sich Klarsicht verschafft, zu Entdeckungen und Aufklärung sowie der Wahrheit führt. Denise Mina macht das wirklich toll, wie sie uns mit Margo in den Sumpf zieht und wieder herausholt!

Noch wichtiger wäre, Denise Minas TOTSTÜCK gerade wegen dieses Sprachgebrauchs zur Pflichtlektüre für Polizeianwärter auf der ganzen Welt zu erklären!


Anmerkung
„‘No Humans Involved‘ - abgekürzt N.H.I. wurde routinemäßig in den Rapports des LAPD als Formel verwendet, um Todesfälle von obdachlosen Schwarzen abzukürzen. Erstmals akademisch kritisiert wurde diese rassistische Floskel, nachdem 1991 Rodneys Kriminalroman King in den Straßen von Los Angeles erschlagen wurde. Die jamaikanisch-amerikanische Autorin und Wissenschaftlerin Sylvia Winter nahm die Formel N.H.I. 1992 in einem ‚Offenen Brief an meine Kollegen‘ in der Stanford-University grundsätzlich als Diskriminierungskürzel für alle Minderheiten aufs Korn, die nicht der weißen, heterosexuellen Mittelschicht angehören.

Kurz nacheinander tauchte N.H.I. jetzt in zwei feministischen Kriminalromanen auf, zuerst in Ivy Pochades DIESE FRAUEN (Krimibestenliste 10-21). Und Denise Mina hat N.H.I. sogar zum aktuellen Titel TOTSTÜCK (Im Original 2020: ‚The Less Dead‘ inspiriert. Wobei die in Los Angeles lebende Pochoda ‚N.H.I.‘ der New Yorker Polizei zuschreibt als Code ‚für getötete Prostituierte, Drogenabhängige und Gangmitglieder‘ und die in Glasgow lebende Mina sie durch den Mund der erfahrenen Prostituierten Nikki ebenfalls dem NYPD zuordnet zur Kennzeichnung von tot aufgefundenen Obdachlosen. Nikki dazu weiter: Wenn unsereins umgebracht wird, nennen sie uns ‚Totstücke‘, als ob wir von vornherein nie wirklich lebendig gewesen wären.‘“ Tobias Gohlis

Dabei sind die Akronyme LAPD das Los Angeles Police Department und NYPD das New York City Police Department.