Bildschirmfoto 2022 09 24 um 01.03.29Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im September 2022, Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) –  Wie soll man beschreiben, wie es Garry Disher aber auch in jedem Roman gelingt, für sein wechselndes literarisches Personal in uns ein persönliches Interesse zu wecken und aufrecht zu erhalten, so als ob es um die eigene Verwandtschaft ginge. Eigentlich hätte ich doch mit Charlie Deravin gar nicht viel anfangen können.

Irgendwie kriegt er nichts richtig auf die Reihe. Und wenn er was macht, macht er’s verkehrt. Der bei der Kriminalpolizei Beschäftigte hat es einem Vorgesetzten mal so richtig gezeigt, ihn tätlich angegriffen und ist nun deswegen suspendiert, hat also viel Zeit, den ganzen langen Strand vom mickrigen Menlo Beach entlangzulaufen, hin und her. Das tut ihm gut und er kann beim Laufen gut nachdenken, immer über dasselbe. Vor zwanzig Jahren ist seine Mutter spurlos verschwunden. Bis heute weiß keiner, was passiert ist. Doch sie ahnen etwas, die Leute.

Denn Rose Deravin war ausgeschert aus dem vorgefertigten Leben. Verheiratet mit dem Detective Sergeant der Polizeistation, einem lebenslustigen Kerl, richtig, ein Macho, der sich eine Neue, Jüngere angelte, mußte sie ausziehen aus dem gemeinsamen Haus, in dem die beiden Buben erst noch blieben. Der eine Bub ist Charlie, sein Bruder Liam lebt heute mit einem Mann zusammen. Charlie macht den Eltern alles nach. Auch er hat seine Frau enttäuscht, die sich scheiden lassen wollte. Und er sinnt beim Laufen eben auch darüber: war er’s oder war er’s nicht. Das Dorf nämlich meint, daß Vater Ryhs seine Exfrau umgebracht hat. Das glaubt auch Liam, Charlie dagegen hält den Vater für unschuldig. Um so wichtiger, endlich das Verschwinden der Mutter zu klären.

Beim Laufen kommt er überall vorbei. Sein eigenes kleines Haus, das seines Vater und wenn er weiter läuft, taucht das Haus seiner Mutter auf, das Haus, das sie gemietet hatte, als sie aus dem Familienhaus ausziehen mußte. Garry Disher verschränkt die zeitlichen Ebenen, die eine Rolle spielen. Es beginnt im Januar 2000, im Februar verschwindet die Mutter Rose, aber auch ein Kind, der neunjährige Billy, der ein schweres Leben hatte, weil ihn die Mitschüler hänselten. Keiner kann einen Zusammenhang erkennen, außer, daß keine Leichen aufgetaucht sind.

Vater Rhys wurde sogar der Prozeß gemacht, aber es gab ja weder eine Tote, noch irgendwelche Beweise, daß er mit dem Verschwinden seiner Ex zu tun hätte. Jetzt 20 Jahre später ist es Charlie, als sei es gestern geschehen. Und mit großer Einfühlung verschränkt Disher nun auch noch die damaligen Ereignisse und Überlegungen mit denen von Charlie Deravin heute. Verdächtigt werden der Reihe nach ihr damaliger Untermieter am stärksten, aber leider wird er entlastet. Parallel laufen die Ermittlungen zum kleinen Jungen. Es ist absoluter Stillstand seit 20 Jahren. Ein cold case.

Wir sind dabei, wenn Charlie zentimeterweise der Lösung näherkommt. Dabei werden wir über Land und Leute und die Befindlichkeiten in einem Raum, der eng scheint, wo aber die Leute eben doch nicht alles wissen, was in den Nächsten vorgeht. Garry Disher sagt es uns. Ein schöner, melancholischer, leiser, eindringlicher Roman.

Die zehn besten Kriminalromane im September 2022

1 (1) Christoffer Carlsson:
Was ans Licht kommt
Aus dem Schwedischen von Ulla
Ackermann. Rowohlt, 492 Seiten, 23 Euro

Marbäck, Hallanda 1986/2019. „Ich werde es wieder tun“, versichert der anonyme
Mörder und Vergewaltiger von Stina Franzén dem Polizisten Sven Jörgensson. Am
selben Tag: Palme ermordet. Sven ermittelt besessen, macht sich schuldig. Sohn Vidar
erbt Svens Obsession. Komplex, der beste schwedische Kriminalroman seit 20 Jahren.

2 (–) Garry Disher: Stunde der Flut
Aus dem Englischen von
Peter Torberg
Unionsverlag, 333 Seiten, 24 Euro

„Menlo Beach“, Victoria. Vor zwanzig Jahren ist die Mutter von Detective Charlie
Deravin verschwunden. Bis heute schwärt der Verdacht, sein Vater Rhys habe sie
umgebracht. Druck von allen Seiten: Charlie suspendiert, neue Ermittlungen, dünne
Spuren. Charlie verstrickt sich tief in Familien- und Polizeiwirrnisse.

3 (–) Cherie Jones: Wie die einarmige
Schwester das Haus fegt
Aus dem Englischen von Karen Gerwig
CulturBooks, 325 Seiten, 25 Euro

Barbados. Im Schatten der Reichen streben sie nach ihrem Glück, die junge Mutter
Lala, Räuber Adan, Gigolo Tone. In einer Nacht stirbt Baby, noch ohne Namen. Raub
wird zu Mord. Aberglaube, Müttermacht, schwache Männer, Armut, Liebessehnsucht: Jones‘ Sound verführt – auf die düstere Seite der Karibik.

4 (–) Chuah Guat Eng: Echos der Stille
Aus dem Englischen
von Michael Kleeberg
Wunderhorn, 463 Seiten, 28 Euro

„Ulu Banir“, Malaysia. Der Mord an einer jungen Frau und seine Aufklärung viele
Jahre später werden für Ich-Erzählerin Ai Lian zum Schlüssel der Geschichte: ihrer
Familie, ihrer Herkunft, ihres Landes. Kolossales Epos und Krimi enggeführt.
Liebe siegt über Aufklärung. Aber kann sie ohne Wissen gelebt werden?

5 (–) Oliver Bottini:
Noch einmal sterben
Dumont, 476 Seiten, 24 Euro

Bagdad, München. Februar 2003: Eine Irakerin will Beweise liefern, dass der Informant der USA und der BRD über Saddams Massenvernichtungswaffen lügt. Geheimdienstler Jaromin soll die Übergabe sichern, gerät zwischen zwei Fraktionen im
BND. Innensicht deutscher Grabenkämpfe. Ultimativer Politthriller zum Irakkrieg.

6 (5) Andrej Kurkow: Samson und
Nadjeschda.
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing
Diogenes, 367 Seiten, 24 Euro

Kiew 1919. Plündernde Rotarmisten, beschlagnahmte Möbel und Wohnungen. Der
arbeitslose Ingenieur Samson landet bei der Polizei und findet Gefallen an Geruchsspezialistin Nadjeschda und der neuen Ordnung. Die sich als zufallsbehaftete Unordnung entpuppt. Abgebrühter Realismus mit märchenhaften Zügen, verfasst 2019.

7 (3) Max Annas:
Mordunterschungskommission –
Der Fall Daniela Nitschke
Rowohlt, 367 Seiten, 22 Euro

West-/Ostberlin 1987. Nicht weit voneinander in Ostberlin erschlagen: eine Küchenhelferin aus Neubrandenburg, ein Posaunist aus Genf. Abgängig: der Stasi-Kontaktmann zu den Kämpfern des ANC. Eine Sekretärin, ein Jazzmusiker aus Südafrika,
die MUK – alle ermitteln. Internationale Solidarität und kriminelle Beweggründe.

8 (–) William McIlvanney/Ian Rankin:
Das Dunkle bleibt
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Kunstmann, 287 Seiten, 25 Euro

Glasgow 1972. Laidlaw „ist ein Mensch, der zufällig auch Polizist ist.“ Als ein Gangster-Anwalt ermordet wird, verhindert er durch Zuhören, Orts- und Menschenkenntnis
einen Bandenkrieg. Ian Rankin hat das Typoskript seines Mentors McIlvanney
vollendet: spannendes Denkmal für die Ikone des modernen europäischen Krimis.

9 (–) Liz Nugent: Auf der Lauer liegen
Aus dem Englischen von
Kathrin Razum
Steidl, 347 Seiten, 28 Euro

Dublin. Söhnchen Laurence über alles. Das ist Upperclass-Snobistin Lydias Maxime.
Auch wenn das den Gatten das Leben kostet, zu schweigen von dem einer „Unterschicht-Schlampe“. Selbst vor dem Sohn macht sie nicht halt, wenn es zu dessen
Bestem ist. Wie man irre glücklich werden kann, fast ohne seine Villa zu verlassen.

10 (4) Femi Kayode: Lightseeker
Aus dem Englischen
von Andreas Jäger
btb, 464 Seiten, 16 Euro

„Okriki“, Nigeria. Drei Studenten, angeblich Diebe, sind von einem Lynchmob
ermordet worden. Der forensische Psychologe Philip Taibo untersucht mit seinem
Fahrer Chika den eigentlich abgeschlossenen Fall erneut. Eine Reise ins Herz der
Finsternis, ins Chaos des eigenen Landes. Unerschrocken gegen alle Tabus.

Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?

Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
https://recoil.togohlis.de/die-krimibestenliste/

Die Krimibestenliste erscheint  nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! Die zukünftigen Krimibestenlisten  2021 sind allerdings noch nicht einmal  online  für die FAS verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021  noch nicht einmal  im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, ARD
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, „SWR“, „WDR“
Frank Rumpel, „SWR“
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Wie funktioniert die Abstimmung?

Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 19 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.

Info:
Rezensionen der Vormonate (die Monate davor finden Sie in den Besprechungen der jeweiligen Monate)

Jahreskrimibestenliste 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/24007-merle-kroegers-die-experten-wird-krimi-des-jahres

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im April 2022
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25106-acht-neue-krimis-aus-sieben-laendern-auf-der-liste
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25112-die-lesenswerten-ausgeschiedenen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25115-vertrauen-von-dror-mishani-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25141-wer-ohne-suende-ist-vonasalarsson-auf-platz-5
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25153-am-roten-strand-von-jan-costin-wagner-auf-platz
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25160-muell-von-wolf-haas-auf-platz
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25216-samira-sedira-mit-wenn-unsere-welt-zerspringt-auf-platz-10
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25238-steph-post-lightwood-auf-platz-10-als-anlass-zur-reflektion-ueber-krimis
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25241-steph-post-lightwood-auf-platz-10
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25284-bullet-train-von-kotaro-isaka
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25298-die-aosawa-morde-von-riku-onda-auf-platz-1

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Mai 2022
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25420-1x-japanisch-1x-hebraeisch-1x-schwedisch-3x-deutsch-1x-franzoesich-3x-englisch
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25514-die-andere-mrs-walker-von-mary-paulson-ellis-auf-platz-7
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25530-terminus-leipzig-von-jerome-leroy-max-annas-auf-platz
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25583-die-knochenleser-von-jacob-ross-auf-platz
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25598-in-deinen-augen-der-tod-von-kerstin-ruhkieck-auf-platz-10
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25609-winter-counts-von-david-heska-wanbli-weiden-auf-platz

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Juni 2022
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25836-fuenf-neue-drei-aus-den-usa-und-zwei-aus-deutschland
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25911-auf-platz-1-city-on-fire-von-don-winslow

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Juli 2022
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25969-drei-neue-aus-drei-kontinenten-afrika-nigeria-asien-malaysia-und-europa-schottland
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/25974-lightseekers-von-femi-kayode-neu-auf-platz-5
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26019-val-mcdermid-mit-1979-jaegerin-und-gejagte-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26030-tash-aw-mit-wir-die-ueberlebenden-neu-auf-platz-6
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26088-die-rache-der-vaeter-von-s-a-cosby-auf-rang
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26131-brachland-von-william-boyle-bei-polar-auf-rang-8

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im August 2022
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26142-christoffer-carlssons-was-ans-licht-kommt-bei-rowohlt-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26222-samson-und-nadjeschda-von-andrej-kurkow-auf-platz-5
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26227-morduntersuchungskommission-der-fall-daniela-nitschke-von-max-annas
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26239-poison-artist-von-jonathan-moore-neu-auf-platz

Wiener Leo-Perutz-Preis:
www.kriminacht.at
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/23466-anne-goldmann-gewinnt-mit-alle-kleinen-tiere