Dschinns 72 dpiMarginalien zu Fatma Aydemirs Roman „Dschinns“

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das kapitalistische System gründet auf der Bewusstlosigkeit der an ihm Beteiligten. Das schrieb sinngemäß Friedrich Engels vor etwa 150 Jahren.

Die sogenannten Gastarbeiter, die ab den 1960er Jahren vor allem aus Italien, Jugoslawien und der Türkei in die Bundesrepublik kamen, fanden selten die Zeit, um ihre soziale Lage zu reflektieren. Jene aus der Türkei hatten es besonders schwer oder sie machten es sich schwer. Die Mehrheit fand keinen Zugang zur deutschen Sprache und verbaute sich dadurch eine umfassende Integration. Auch die Religion trug ihren Teil dazu bei. Ebenso schien ihre Rolle als Arbeitnehmer von einem unübersehbaren Untertanengeist geprägt zu sein. Obwohl die meisten in den Zentren der damaligen Großindustrie schufteten, vor allem in Zechen und Stahlwerken sowie auf dem Bau, organisierte sich nur eine Minderheit in den Gewerkschaften. In den 1980er Jahren veränderte sich einiges. Im Bergbau gab es die ersten Steiger, die auf Fachhochschulen ein Ingenieurstudium absolviert hatten. Und die ihre Kinder auf bessere Schulen schickten. Die Gewerkschaften IG Bergbau und IG Metall verzeichneten Mitglieder aus dem Kreis der türkischen Einwanderer. Die SPD verwies stolz auf türkische Genossen. Doch diese Integration beschränkte sich auf relativ wenige.

Als ich im Jahr 2002 zum ersten Mal zu einem längeren Besuch in meine Heimat, das Ruhrgebiet, zurückkehrte, das ich knapp drei Jahrzehnte vorher verlassen hatte, begegnete ich Basak, meinem freundlichen Nachbarn aus der Jugendzeit. Er wohnte noch immer in der Bergarbeitersiedlung der ehemaligen Schachtanlage „Gneisenau“ im nordöstlichen Dortmund. Allerdings waren die Häuser total renoviert worden und wirkten sehr ansehnlich. 1966 war er als 20-Jähriger in seiner Wahlheimat eingetroffen, die eigentlich nur Arbeits- und Wohnstätte war und über die er fast nichts wusste. Er malochte acht Stunden unter Tage, traf sich nach der Schicht mit Landsleuten in einer Gemeinschaftsunterkunft, dem ehemaligen „Ledigenheim“ für Bergwerkslehrlinge. Danach schlief er dem nächsten Arbeitstag entgegen. An den Wochenenden waren er und andere junge Türken rund um den Bahnhof zu finden. Sie saßen auf den Bänken vor dem Gebäude und in den Wartehäuschen auf den Bahnsteigen und tranken Coca Cola und Sinalco. Selten gingen sie in die Bahnhofsgaststätte, alkoholische Getränke schienen sie zu meiden. Es schien ein sehr eindimensionales Leben zu sein.

Zwei Jahre später wies ihm die Ruhrkohle AG eine kleine Wohnung in der erwähnten Siedlung zu. So kam es, dass wir uns im Herbst 1968 zufällig begegneten. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, wobei mir kurz vor dem Elternhaus die Kette abgesprungen war. Hilflos schaute ich mich um. Basak hatte den Vorfall beobachtet. Dann trafen sich unsere Blicke. Er winkte mich heran und gestikulierte, dass er mir helfen würde. Aus seiner Wohnküche holte er eine Werkzeugkiste und nach einer Viertelstunde hatte er die Kette aufgezogen und die Funktion der Gangschaltung überprüft. Seine Deutschkenntnisse reichten zu kaum mehr, als seinen Namen zu nennen. Ich lud ihn zu einem Bier in der benachbarten Gaststätte ein. Doch er mochte nicht. Eine halbe Stunde saßen wir mehr oder weniger wortlos auf seiner Vorgartenbank. Dann verabschiedeten wir uns mit Handschlag.

Wenn wir uns danach wiedersahen, winkten wir uns zu, grüßten mit „Hallo“ oder „Guten Tag“; aber es kam selten zu einem Gespräch. Obwohl wir uns sympathisch waren, verstanden wir uns sprachlich kaum.

Seinen gesamten Jahresurlaub verbrachte er in der Türkei. Im Sommer 1971 brachte er seine Freundin oder Frau mit. Sie hieß Duru. Die Hand durfte sie mir nicht zur Begrüßung reichen; möglicherweise verbat das die Landessitte oder die Religion. Ein Kopftuch trug sie nicht. Wenn sie mir allein begegnete und ich sie grüßte, senkte sie den Kopf und lächelte. 1973 wurden Basak und Duru Eltern. Ich bemerkte das an ihrem Umzug in die größere Wohnung im ersten Stock des Siedlungshauses. Das neue Zuhause wurde zu einer Art Festung, die nur selten verlassen wurde. Basak sah ich kaum noch, er schien an allen Wochenenden und Feiertagen Überstunden zu machen. Duru schaute regelmäßig aus dem Küchenfenster hinab in den Gemüsegarten hinter dem Haus. Und sie trug ein Kopftuch.

Zu jener Zeit war ich immer seltener im elterlichen Anwesen, denn ich teilte mir bereits mit meiner Freundin eine Wohnung in der Innenstadt. Bald darauf zogen wir aus Dortmund weg.

Und dann stand ich 27 Jahre später vor dem mittlerweile sehr schmucken Siedlungshaus, das fest in türkischer Hand schien. Basak, der sich im hinteren Garten um das Gemüse kümmerte, hatte mich entdeckt, wiedererkannt und kam freundlich auf mich zu. Wir schüttelten uns die Hand und stellten fest, dass wir beide älter geworden waren. Einen Zustand, den wir übereinstimmend an unseren grauen bis weißen Haaren festmachten und den wir gemeinsam beklagten. Sein Deutsch war besser geworden, aber es fehlte ihm der Wortschatz für ein tiefergehendes Gespräch. Immerhin erfuhr ich, dass er zwei Söhne hatte, die „im Büro“ arbeiteten und regelmäßig in die Türkei fuhren, um den kleinen Hof der längst verstorbenen Großeltern zu einem Wohnhaus auszubauen. Es solle Basaks Winterdomizil werden und vielleicht irgendwann der Altersruhesitz seiner Kinder. Obwohl in Dortmund geboren, fühlten sie sich nach Meinung ihres Vaters hier noch weniger heimisch als er selbst. In vier Jahren würde er in den Vorruhestand gehen können, die großzügigen Regelungen für ehemalige Bergarbeiter machten das möglich. Seit mehr als zehn Jahren arbeite er bei der Grundstücksverwaltung, die das ehemalige Zechengelände saniere. Wenn die letzten Betriebsstätten abgerissen wären, würde dort ein riesiger Supermarkt entstehen. Sein Lebensmittelpunkt und der seiner Familie sei das islamische Kulturzentrum, das neben meinem Elternhaus in einem ehemaligen Lebensmittelgeschäft errichtet worden war. Ich wünschte ihm alles Gute und spazierte nachdenklich durch die Straßen meines Heimatorts, der die typische Atmosphäre der Industrieregion fast völlig verloren hatte. Denn eine neue und völlig andere Kultur war eingezogen. Vor dem einstigen Kolonialwarenladen, der in den 1960er Jahren zum kleinen Supermarkt umgebaut worden war, hatten nach Feierabend die Kumpels gestanden und bei einer Flasche Bier die Spiele von Borussia Dortmund ausführlich und lautstark diskutiert. Jetzt gaben die Schaufenster den Blick frei auf Tische und Bänke, wo sich türkische Zuwanderer zum Tee trafen. Weiter hinten erkannte ich den Zugang zu einem Gebetssaal. So etwas hätte vor dreißig Jahren sogar die frommen Katholiken polnischer Herkunft erstaunt.

Meine Gedanken wanderten spontan zu den polnischen Arbeitern, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in das Industrierevier gezogen waren. Es drängte sie nach gut bezahlter Arbeit und schon bald nach etwas Wohlstand, den sie mit viel Fleiß zu erlangen suchten. Und sie strebten danach, gute Deutsche zu werden. Viele wollten sogar noch ein wenig deutscher sein als die Eingeborenen. Einige veränderten ihre Namen dahingehend, dass sie auf Deutsch besser sprechbar wurden. Aus Czervinsky wurde Scheerwinski. Andere änderten ihren Namen völlig. Ich lernte eine Familie Sahlmann kennen, deren Großeltern ursprünglich Salewski hießen. Katholisch blieben die meisten, etliche waren sogar von strenger Observanz. Zumindest an den kirchlichen Feiertagen. Und die Urenkel und Ururenkel, meine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden, waren überproportional besonders gut im deutschen Aufsatz und in der deutschen Rechtschreibung. In diesen Familien pflegte man die Sprache.

All das fiel mir wieder ein, als ich die ersten Kapitel aus Fatma Aydemirs Roman „Dschinns“ las, der auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gesetzt wurde. Nach einem Leben in dem „kalten, herzlosen Land“, also in Deutschland, kann sich der Familienvater Hüseyin eine Eigentumswohnung in Istanbul kaufen. Das Geld dazu hat er innerhalb von dreißig Jahren mühsam, vor allem durch Überstunden, angespart. Doch das Land, welches ihm im Vergleich zur Heimat bessere Verdienstmöglichkeiten und seinen Kindern eine bessere Schulbildung ermöglichte, blieb ihm fremd. Seine Ehefrau Emine lernt nie Deutsch, bleibt in besonderer Weise isoliert. Warum, entschlüsselt die Autorin nicht. Die Vermutung einer Depression bleibt im Ungefähren.

Zwar erzählt sie in atmosphärisch dichter Weise diese Familiengeschichte aus der Perspektive ihrer einzelnen Mitglieder. Aber sie analysiert die jeweiligen Umstände, nämlich die wirtschaftlichen, die politischen, die religiösen, zu wenig. Entlarvt die vermeintlichen Sachzwänge nicht als Zwänge von Menschen, die ihre eigenen Interessen über die der anderen stellen. Sevda, die älteste Tochter, erlebte einen rassistischen Brandanschlag auf das Haus, in dem sie wohnt. Dennoch hat sie sich nicht einschüchtern lassen, hat ihren Weg fortgesetzt und ein Restaurant eröffnet. Ihr Bruder Hakan ist auf die schiefe Bahn geraten und lebt als Kleinkrimineller. Ihre Schwester Peri hingegen studiert; als Erste in der Familie. Der jüngere Bruder Ümit outet sich als schwul, was für die traditionalistischen Grundsätzen der Eltern die schwerste Belastung darstellt.

Hüseyin, der beim Einzug in die neue Wohnung einen Herzinfarkt erleidet und daran stirbt, hat bis zuletzt kein kritisches Selbstbewusstsein erlangen können. Mentalität, Tradition und Religion wurden hingenommen, obwohl sie sich als Barrieren erwiesen. In seiner neuen Heimat dienten sie allzu häufig als Ausreden, um die Schwierigkeiten bei der Integration plausibel zu machen. Wäre er in der Türkei geblieben, hätte er damit mutmaßlich die ständige Kapitulation gegenüber den herrschenden Verhältnissen begründet. Bei Hüseyins Beerdigung treten die Brüche, welche diese Familie längst trennt, noch einmal deutlich hervor. Doch erneut werden sie nicht als Widersprüche einer Gesellschaft verstanden, in der sich türkischer Feudalismus, orthodoxes Religionsverständnis, westliches Konsumdenken und die politische Situation Deutschlands nach der Wiedervereinigung explosiv mischen. Nein, es muss ein böser Geist gewesen sein, ein Dschinn, der sich eingenistet hat.

Zudem zeichnet Fatma Aydemir ein Deutschlandbild, das sich überwiegend aus Klischees speist und für die Nachwendezeit zu Anfang der neunziger Jahre in dieser pauschalen negativen Skizzierung nicht zutrifft. Das selbst vor dem Hintergrund der schlechten Erfahrungen, die ihre Protagonisten gemacht haben, falsch ist. Als Leser hat man gar den Eindruck, dass der Autorin dieses Deutschland ziemlich gleichgültig ist. Denn ihr Roman ist eine Hommage an falsche Innerlichkeit. Er klärt nicht auf, er schafft kein neues Bewusstsein, auch nicht bei denen, die willfährige Opfer geschichtlicher Entwicklungen sind.

Friedrich Engels wird diese Zustände weiterhin beklagen müssen.

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