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Zwei neue Bücher über Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Teil 2

Elvira Grözinger

Berlin (Weltexpresso) - Thematisch verwandt ist das Buch von Tilman Tarach, Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitimus. Das Vorwort dazu verfasste die frühere Vorstandsvorsitzende der von ihr 1998 gegründeten Amadeu Antonio Stiftung, die gegen Rassismus und Antisemitismus aktiv ist, Anetta Kahane. Die Stiftung wurde nach dem Angolaner benannt, der 1990 in Eberswalde als eines der ersten Todesopfer der ostdeutschen Neonazis nach der Wiedervereinigung erschlagen wurde. Frau Kahane, Journalistin und Tochter deutscher Kommunisten, wurde selbst Ziel rechtsextremer Anfeindungen, nachdem ihre mehrjährige Tätigkeit als IM der DDR-Staatssicherheit bekannt wurde.  

Tilman Tarach hat, wiewohl Jurist und kein Historiker, hat schon über den modernen Judenhass in der Vergangenheit geschrieben: Der ewige Sündenbock, 2. Aufl. 2009. Das Thema seines neuen Buches ist nicht unbekannt, denn es sind sehr viele Studien zum Thema des „christlichen Antisemitismus“ (so bezeichnet es Anetta Kahane in ihrem Vorwort zu dem Buch, S.7, dem ich nicht in Allem zustimmen kann) erschienen. Leider wurden nicht alle relevanten Publikationen in der Bibliographie aufgeführt, ein Manko, denn sie hätten vielleicht zur Begriffsklarheit beigetragen. Der Ausdruck „Antisemitismus“ ist in diesem Zusammenhang unrichtig, weil für die ältere Zeit, in der die Evangelien sowie den Schriften der Kirchenväter bezüglich des antijüdischen Ressentiments den Ton angaben und in der Fachliteratur von christlichem Antijudaismus die Rede ist. Dieser, zuweilen auch Judäophobie – feindliche Gesinnung gegenüber der jüdischen Religion und Juden -, genannt, bestand bis zum Aufkommen der neuen Form der Judenfeindschaft im 19. Jahrhundert, dem modernen Antisemitismus. Der Antijudaismus, der wie kaum ein zweites Phänomen seit dem Entstehen des Christentums für die jüdische Minderheit in Europa allzu häufig lebensgefährliche Formen annahm, war damals religiöser Art and hatte eben noch keine Züge des Rasseantisemitismus, auch, weil der Begriff der Rasse erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Bezug auf Menschen in Gebrauch war. Zwar gab es im Spanien des 15. Jahrhunderts den Begriff der „Reinheit des Blutes“ - limpieza de sangre -, welche sich allerdings nicht nur gegen die jüdischen Conversos, sondern auch gegen die Nachkommen der muslimischen Mauren richtete. Bei Juden war dies immer wieder durch den Vorwurf des Gottesmordes und ihrer Kollektivschuld motiviert. In diesem Zusammenhang von rassistischem Antisemitismus zu sprechen, lässt sich nur mit Hilfe von Anführungsstrichen, wie es Tarach (S. 97) auch tut, legitimieren. Es ist aber wiederum ein primär religiöses antijüdisches Ressentiment, das auf die Stelle im Matthäus-Evangelium 27,25 zurückgeht. Dort heißt es über den Prozess Jesu „Da rief sein Volk: sein Blut komme über uns und unsere Kinder“.  Und die angebliche Abstammung der Juden vom Teufel, wie sie im Johannes-Evangelium verbreitet wurde, hat weniger mit dem „Rassenantisemitismus“ zu tun, wie es der von Tarach zitierte österreichische Autor Gerhard Scheit (S. 103) erwägt, der keine theologisch Vorbildung hat, sondern ist wiederum religiös bedingter Judenhass. Die unzähligen Primär- und Sekundärtexte, die sich mit dem Phänomen der Judenfeindschaft befassen, unterscheiden zwischen verschiedenen Formen dieses Phänomens, zumal inzwischen an wissenschaftlichen Standards für die Periodisierung und Klassifizierung kein Mangel herrscht. 

Die Vertreibungen und Ermordung der Juden sowie der Raub an ihrem Eigentum, schreibt A. Kahane, zogen sich zwar „als Konstante durch die europäische Geschichte“, aber der Begriff Rassismus für die Zuordnung von Juden zu einer vermeintlichen Rasse kam eben erst im 19. Jahrhundert in Gebrauch und wurde zu einem eliminatorischen Antisemitismus in der Hitlerzeit, was ja in seiner Dimension ohne Präzedenz war. Der rassistische Antisemitismus ging mit dem ökonomischen einher, schöpfte aber natürlich auch aus den vorherigen Erscheinungsformen. Im sogenannten christlichen Abendland tradierte sich der religiöse Antijudaismus fort und die Kirchen säten Judenhass unter ihren Anhängern weiter.

Tilman Tarach geht der durchaus berechtigten Frage nach, „in welchem Verhältnis die Gründungsmythen und Leitideen der christlichen Lehre als solche zum Antisemitismus stehen – und zwar durchaus auch zum modernen, nationalsozialistischen und schließlich auch zum israelbezogenenen Antisemitismus.“ Seine Untersuchung umfasst daher auch die heutigen Evangelikalen Bewegungen. Der heutige Judenhass, der eine neue antiisraelische Form hinzugewonnen hat, wird nun aber in Europa wenn nicht noch stärker durch radikale Muslime verbreitet, denn der muslimische Judenhass existiert seit den Anfängen des Islam, neben den Judenverfolgungen im christlichen Europa, was eigens in einem Kapitel behandelt wird. 

Tarach erwähnt am Anfang seines Buches den wenig bekannten sehr frühen Pogrom von 388 in der syrischen Stadt Raqqa (Callinicum), damals noch Teil des Römischen Reiches, der vom christlichen Mob verübt, welcher vom dortigen Bischof dazu aufgestachelt wurde. Dabei war erst acht Jahre zuvor das Christentum zur Staatsreligion erhoben worden. Wie die von Tarach beschriebene judenfeindliche Reaktion des Bischofs Ambrosius von Mailand zeigt, war dieser Pogrom religiös untermauert, denn die verbrannte Synagoge war für ihn ein Symbol des „Unglaubens der Juden“. Auch für die Muslime wurden Juden (und Christen) zu „Ungläubigen“. Der Islam ist ja erst am Anfang des 7. Jahrhundert entstanden aber Mohammed griff als eines seiner ersten Expansionsziele schon im Jahre 628 die wohlhabende, von Juden bewohnte, Oase Khaybar (Saudi-Arabien) an, die nach einer mehrwöchigen Belagerung kapitulierte. Die Juden konnten ohne ihren Besitz fliehen, oder bleiben, wenn sie sie den neuen Herrschern Steuern – Kopfgeld, seither als Dschisya bekannt -, zahlen würden, was zu deren Reichtum führte und den Beginn des Statuts der Dhimmitude für die den Muslimen unterlegenen Völker einläutete. Ob es in Khaybar zu einem Massaker an Juden gekommen ist oder nicht, ist umstritten, jedenfalls verwenden die heutigen militanten Muslime „Kahybar“ als Schlachtruf gegen die Juden. 

Die Herrschaft der Muslime in Andalusien war entgegen anders lautenden Legenden kein goldenes Zeitalter der Toleranz. Der erste Pogrom an Juden auf dem europäischen Boden fand, was auch Tarach erwähnt (S. 167) 1066 in Granada statt. Der muslimische Berber-Mob stürmte den Königspalast, kreuzigte (sic!) den jüdischen Wesir Joseph ibn Narghela, Sohn des großen Dichters im mittelalterlichen Spanien, Schmuel ha-Nagid und ermordete den größten Teil der jüdischen Bevölkerung der Stadt, über 4000 Personen aus 1500 Familien. Der in Harvard lehrende spanische Spezialist für andalusische Geschichte, Dario Fernández-Morera,  hat darauf hingewiesen, dass diesem muslimischen Pogrom noch mehr Juden zum Opfer fielen als in den bekannten christlichen Pogromen im Rheinland zum Auftakt des Ersten Kreuzzuges im Jahre 1096. Damals wurden die jüdischen Gemeinden insbesondere im Rheinland durch die fanatisierten Kreuzfahrer angegriffen – es waren die ersten Pogrome und Morde an den Juden durch Christen im Abendland. Tarach erwähnt, dass in „Ländern ohne größeren christlichen Bevölkerungsanteil wie Indien, Thailand, Vietnam und China […] das Ressentiment gegen die Juden nie gesellschaftlich relevant geworden [ist…]. Die Staaten mit überwiegend buddhistischer oder hinduistischer Bevölkerung pflegen im Allgemeinen seit langem freundschaftliche Beziehungen zu Israel […] Im Gegensatz dazu begegnet man antisemitischen Weltbildern allerdings in fast allen islamischen Ländern.“ (S.11) 

Was hat aber das Christentum, um das es in dieser Studie vornehmlich geht, mit dem über fast zwei Jahrtausende hartnäckig bis heute haltenden und vom Rassismus verschiedenen Antisemitismus, zu tun? Lange vor seiner Entstehung hat es am Mittelmeer Judenfeindschaft gegeben. Bereits im Jahr 411 v. Chr. wurde auf der Nilinsel Elephantine der Tempel der jüdischen Militärkolonie angezündet und geplündert. Der judenfeindlichen Autoren gab es schon in der vorchristlichen Antike eine große Anzahl. Die Verleumdungen der ägyptisch-hellenistischen und römischer Historiker gegen die jüdische Darstellung des Exodus aus Ägypten musste vor fast zweitausend Jahren der römisch-jüdische Historiker Josephus Flavius (37/38-c. 100 n. Chr.) in seiner Schrift Contra Apionem (am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr.) widerlegen und etliche Namen sind heute, dank seiner, auch außerhalb der engen Fachkreise bekannt: So z.B. der Gelehrte Hekataios von Abdera (Zeitgenosse Alexanders des Großen, 4. Jh. v. Chr.), der in der ihm lange zugeschriebenen Schrift Über die Juden ihnen Misanthropie und abschottende Sitten vorwarf, so auch der in Ägypten als Oberpriester lebende Hellene Manetho von Sebennytos (3. Jh. v. Chr.); der ägyptische Priester und stoische Philosoph Chaeremon aus Alexandria (1. Jh. n. Chr., soll Neros Lehrer gewesen sein); Lysimachos, der angenommene Gegner der projüdischen Politik von Kleopatra III. (gest. 101 v. Chr.) oder ein anderer Autor gleichen Namens; ferner ein Apion von Oasis oder Apion Mochthos (1.Jh. v. Cr. -1. Jh. n. Chr.), ein hellenisierter Ägypter, Grammatiker, Homer-Kommentator und Leiter der Bibliothek von Alexandria. Er verfasste 38 n. Chr. die erste Hetzschrift gegen die Juden in unserer Ära. Antijüdische Aussagen kennen wir nun von dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus (56/58-um 120 n. Chr). In dem 5. Teil seiner Historien verfasste er einen Judenexkurs, in dem er z.B. über „das sehr abstoßende Volk“ und abwertend über die jüdische Religion schrieb und auch Tertullian (nach 150-220, aus Karthago, heute Tunesien) war ein früher christlicher lateinschreibender Schriftsteller, der gegen Häretiker in den eigenen Reihen und gegen die „verstockten Juden“ (Adversus Judaeos) polemisierte.

Die christlichen Kirchenväter konnten also an die Vorgänger anknüpfen: so wie der römische Bischof und Augustinus, bekannt als „der heilige Augustin“ (354-430 heute Algerien), der in seinem Adversus Iudaeos das negative Verhältnis der latein-römischen Kirche zu Juden auf lange Zeit maßgeblich beeinflusst, ja vergiftet hat. Auch Johannes von Antiochia (später Chrysostomos genannt, 349 oder 344-407), Erzbischof von Konstantinopel verfasste seine die Juden als angebliche Gottesmörder gerichteten Attacken Adversus Iudaeos (um 390).  Hier bestätigt sich also das, was auch Tarach zeigt, dass ohne den kirchlichen Antijudaismus der moderne, ab dem frühen 19. Jahrhundert aufkommende nationalistische, sozialdarwinistische und dann auch rassistische Antisemitismus nicht entstanden wäre. Die Vorlage für all diese Anschuldigungen der Kirchenväter dienten die Evangelien des „Neuen Testaments“. Tarach weist darauf hin, dass es für die Juden noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Tagesordnung war, „als Mörder Jesu beschuldigt zu werden.“ (S.49) Allerdings, so auch Tarach, behauptete die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) noch 1948 in ihrem Wort zur Judenfrage (sic!), dass “Israel den Messias kreuzigte“ (S.51). Die katholische Kirche revidierte auf die Initiative von Papst Johannes XXIII. (1881-1963), der als Nuntius in Bulgarien und Ungarn in der NS-Zeit vielen Juden das Leben gerettet hatte. Aber erst 1965, also zwei Jahre nach seinem Tod, HAT DIE Katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil und nach konfliktreichen Verhandlungen in der Erklärung Nostra aetate ihre Haltung zu den nichtchristlichen Religionen und damit auch zum Judentum revidiert. Johannes XXIII. ließ bereits 1959 in der Fürbitte für die Juden am Karfreitag die Worte „perfidis“ und „iudaicam perfidiam“ (Hinterlist) streichen. Für mich als jüdisches Kind im Nachkriegspolen, das von den Nachbarskindern und Mitschülern mehrfach als „Jesu Mörderin“ beschimpft und angegriffen wurde, kam es allerdings zu spät. Und wie Tilman Tarach erinnert: „Besonders obskurantistische Kräfte wie die Piusbruderschaft oder der von ihr zum Bischof geweihte, mittlerweile exkommunizierte und aus der Bruderschaft ausgeschlossene Richard Williamson lehnen das Zweite Vatikanische Konzil bis heute ab und beharren auf der Gottesmordlegende. Dennoch hatte der kürzlich verstorbene deutsche Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation der Bischöfe der Piusbrüderschaft aufgehoben und den Passus über die Juden „damit sie Jesus Christus erkennen“ in die Karfreitagsfürbitte wieder aufgenommen. (S. 59)

Der Autor blickt auch mehrfach über die Grenze Deutschlands, z. B. in den Nahen Osten, wo es auch schon 1840 zu einer christlich-muslimischen „konzentrierten Aktion“ in Pogromen gegen die Juden während der sogenannten Damaskus-Affäre gekommen war. Heute sitzt dort z.B. ein seit Jahren ohne Wahlen sich palästinensischer Präsident nennender Holocaustleugner einem Phantasieland vor. Der Autor blickt auch in die USA, wo die Verschwörungstheoretiker des Q-Anon ihr Unwesen treiben oder mehrfach in unser Nachbarland Polen, wo der Nachkriegsantisemitismus ohne Juden gedeiht und wo der katholische Radiosender Maryja seit Jahren gegen die Juden hetzt. Dort erklärt auch die rechtsgerichtete Regierung die Wissenschaftler wie Jan Tomasz Gross, der über die Ermordung von Juden im besetzten Polen durch Polen publizierte, sowie Barbara Engelking und Jan Grabowski, die über die Kollaboration der Polen mit den deutschen Besatzern forschen, zu Staatsfeinden. 

Das Buch von Tilman Tarach ist bei dem geringen Umfang naturgemäß nicht erschöpfend aber doch reich an Informationen über verschiedene geschichtliche Phasen und Formen der Judenfeindschaft. Es ist ein emotional engagiertes Plädoyer gegen Judenhass, ein interessantes, faktenreiches jedoch leider kein systematisches Buch, viele Gestalten-, Epochen-, Ländergrenzen- und Phänomen-übergreifend. Orientierungshilfe bieten ein Sach-, Orts- und Personenregister sowie eine Bibliographie. Dem Autor ist für sein dezidiertes Eintreten gegen Antisemitismus zu danken und dem Buch große Leserschaft zu wünschen.        

 
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Info:
Monika Schwarz-Friesel, Toxische Sprache und geistige Gewalt. Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen. Narr Francke Attempto Verlag Tübingen 2022, 227 S.
Tilman Tarach, Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus. Mit einem Geleitwort von Anetta Kahane. Edition Telok Berlin & Freiburg 2022, 224 S.