Neunter Würth-Preis für Europäische Literatur übergeben

 

Hubertus von Bramnitz

 

Stuttgart (Weltexpresso) – Noch im März ist der ungarische Autor Péter Nádas mit dem 9. Würth-Preis für Europäische Literatur ausgezeichnet worden. Nádas ist einer der großen europäischen Schriftsteller, so die Jury in ihrer Begründung. Der Preis für Nádas kommt angesichts seiner offenen Worte zur politischen Situation in Ungarn auch deshalb richtig, weil sich viele Regierungsgegner dadurch mitausgezeichnet fühlen.

 

Der zweijährige Preis ging für 2012 an die wunderbare polnische Schriftstellerin Hanna Krall. Wir hatten damals ausführlich berichtet. Zu Nádas: Geboren 1942 in Budapest, lebt er seit 1985 in Budapest und in der kleinen Ortschaft Gombosszeg. Seine Anfänge sind die eines Fotoreporters, und sein fotografisches Schaffen hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt. Bis 1968 war Nádas als Journalist tätig. Von 1969 bis 1977 verhinderte die ungarische Zensur die Publikation seiner literarischen Werke.

 

Péter Nádas' Œuvre ist in Europa und Amerika durch Übersetzungen und Literaturpreise, darunter auch den Kafkapreis (2003), lange bekannt. Manche Kritiker haben Nádas mit Musil, Joyce, Proust, Tolstoj verglichen – was er aber als irreführend bezeichnet. In der Tat geht seine Prosa, vom Ende eines Familienromans (1977) über das Buch der Erinnerung (1986) bis zu seinem Meisterwerk Parallelgeschichten (ungarisch 2005, deutsch 2012) einen anderen und neuen Weg, der den figurativen Ausdrucksmöglichkeiten des Kinos Rechnung trägt. Komplexe Erzähloberflächen werden immer wieder durchbrochen, Raum und Zeit vermischt, die unzähligen Schicksale der Einzelnen, die Nádas aus direkter Erfahrung auf dem Hintergrund von Nazismus, Stalinismus und Postkommunismus darstellt, erscheinen dem staunenden und oft auch schockierten Leser fremd und rätselhaft.

 

Eine besondere Eigenart des Romanautors Nádas ist eine Ästhetik des Hypertextes. Lupenartig realistische Nahaufnahmen, die an sein Urtalent des Fotografierens erinnern, gehen ins Unheimliche und Alptraumhafte über. Neben den Rätseln des Bewusstseins analysiert er postmodern cool und zugleich passioniert – manchmal über Hunderte von Seiten – auch körperliche Erfahrungen und die Sexualität in all ihren Spielarten, ohne dass er je ins Pornografische überginge. Auch liegt ihm das bloße Moralisieren fern.

 

Sein Hauptmotiv ist unsere „tragische Urleere“, wie er sie bezeichnet. Unerschrocken demaskiert Nádas die Verlogenheit und die Grausamkeit von Menschen und Regimen, Erfahrungen, die selbst Kindern nicht erspart bleiben (siehe die Minotauros-Erzählungen, 1967-1979).

 

Der mit 25.000 Euro dotierte Würth-Preis für Europäische Literatur wird alle zwei Jahre vergeben. Die mit diesem Preis verbundene Europa-Vorstellung ist weit gefasst. Sie meint vor allem kein kulturell begradigtes Europa. Vielmehr soll der Preis den Blick lenken auf ein vielstimmiges Europa der Übergänge und Zwischentöne, der Unterschiede und Vermischungen. Das Interesse gilt auch den Randzonen und Grenzbereichen europäischer Lebensformen und Wertvorstellungen, die aus dem Fundus unterschiedlicher Sprachen und Traditionen erwachsen. Auf diese Weise erscheint Europa als schützenswertes Ensemble verästelter Kulturen, als artenreiches „kulturelles Biotop” neu.

 

Das Bekenntnis zu einem Europa, das weit mehr sei als ein reiner Wirtschaftsraum, stellte Harald Unkelbach, Mitglied der Geschäftsleitung der Adolf Würth GmbH & Co. KG und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Würth in seiner Begrüßung in den Mittelpunkt. Diesen Gedanken griff Jürgen Walter, Staatssekretär im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg in seinem Grußwort auf: „Der Preis bildet einen wichtigen Baustein für den Weg zu einem großen Ziel: Die Entstehung einer europäischen Gesellschaft. Mit Péter Nádas wird ein mutiger und großer europäischer Schriftsteller geehrt.“

 

C. Sylvia Weber, Direktorin der Sammlung Würth, die in Vertretung von Anna Maria Carpi die Begründung der Jury vortrug, sagte: „Nádas geht es um die Entzifferung der Wahrheit und der verborgenen Logik der Dinge, aber die schöne Verständlichkeit seiner Sprache macht seine Bücher auch dem großen Publikum zugänglich.“ In ihrer Laudatio attestierte die Schriftstellerin und Übersetzerin Christina Viragh Péter Nádas einen „tiefgehenden Humanismus“. Nádas schreibe davon, wie die Realität wirklich funktioniere und davon, wie die Menschen, auf feste Konturen und Deutungen aus, an ihr leiden, an ihrer Unbeständigkeit.    

 

 

INFO:

 

Der Würth-Preis für Europäische Literatur würdigt literarische Bemühungen um die kulturelle Vielfalt Europas. Er wird vor allem an Persönlichkeiten verliehen, die im Schnittpunkt unterschiedlicher Kulturen arbeiten, die sich mit europäischen Kulturtraditionen auseinandersetzen oder sich Problemen widmen, die in ihrem Land erst durch europäische Einflüsse entstanden sind. Ausgezeichnet werden also Autorinnen und Autoren, deren Werk und Leben Reflex dieser besonderen Kulturerfahrungen sind. Die literarische Gattung spielt dabei keine Rolle. Da der Würth-Preis für Europäische Literatur nicht nur ein Preis für literarische Insider sein will, gehören der Jury Literatur- und Kulturvermittler der verschiedensten Sparten unter Vorsitz von Harald Unkelbach an: Anna Maria Carpi, Lars Gustafsson, Harald Hartung, Sigrid Löffler, Hans Maier, Jürgen Wertheimer.


Die Preisträger seit 1998:

  • 1998 Hermann Lenz

  • 2000 Claudio Magris

  • 2002 Claude Vigée

  • 2004 Harald Hartung

  • 2006 Herta Müller

  • 2008 Peter Turrini

  • 2010 Ilija Trojanow

  • 2012 Hanna Krall

  • 2014 Péter Nádas

    Foto: Würth/Andi Schmid

    Harald Unkelbach, Mitglied der Geschäftsleitung der Adolf Würth GmbH & Co. KG und Vorsitzender der Stiftung Würth (rechts) bei der Preisübergabe an Péter Nádas in Stuttgart.