Bildschirmfoto 2023 10 05 um 04.28.14Schon wieder ein Fall für Jackson Lamb, den Mick Herron brillant serviert

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Schon allerhand, wenn man eine Serie, die beim sechsten Fall angekommen ist, ohne jegliche Abnutzungserscheinungen so gespannt liest, wie es bei diesem Spionageroman erneut der Fall ist. Grund genug, sich zu überlegen, woher das kommt. Serien leben von einem Widerspruch, den aufzulösen, sie erfolgreich machen: man muß das Gewohnte, das Bewährte wiederfinden, aber es muß auch so viel Neues dabei sein, daß der Roman nicht in Behäbigkeit verfällt, wie z.B. eine gewisse amerikanische Autorin mit ihren Venedig-Krimis…

Als ich SLOW HORSES, den ersten, 2010 auf Englisch, 2019 auf Deutsch erschienen Krimi las und mich immer wieder schepp lachte, dachte ich noch, das ist ein Einzelstück, eine Rarität, die es nicht noch einmal geben kann, so messerscharf und elegant zugleich verarbeitete Mick Herron englische Gegenwart mit britischer Historie, Gentlemangelassenheit und die schwärenden Wunden des einst so prächtigen Commonwealth – und das alles auf der Basis von Selbstironie ohne Rücksicht auf Verluste der doch fast heiligen Institutionen im Königreich. Und dann kam 2013 mit DEAD LIONS (bei Diogenes 2019) der nächste gesellschaftskritische Knüller, 2016 REAL TIGERS (deutsch 2020). Irgendwann flachte es etwas ab, ich weiß nicht mehr, ob es SPOOK STREET (2017), bei Diogenes, wie alle Jackson Lamb-Fälle, von Stefanie Schäfer übersetzt, 2021 herausgekommen, oder ob es LONDON RULES (2018), deutsch 2021, war, das ist auch nicht mehr wichtig, denn der gerade erschienene neue Fall von Jackson Lamb, in Großbritannien 2019, zeigt keine Spionage-Ermüdungen, sondern wird, wenn das noch geht, immer politischer, immer surrealer, immer absurder.

Wir haben, glaube ich, das Geheimnis entdeckt. Inzwischen läßt der Autor – ach so, man muß natürlich vorausschicken, daß Lamb die Absteige leitet, in der die im regulären Spionagealltag aus ganz unterschiedlichen Gründen ausgemusterten Spione ein Schattenspionageleben führen – von den dortigen Slow Horses immer mindestens einen im Einsatz sterben. Diesmal sogar zwei. Das ist mutig, denn wir sind immer dagegen, daß da eine bekannte Figur einfach von der Gegenseite abgemurkst wird, verstehen aber inzwischen, daß dadurch, weil ja auch die Zentrale immer wieder jemanden ins Slough House zu den Slow Horses abschiebt, eine personale Dynamik entsteht, die die Lebendigkeit des Geschehens garantiert.

Diesmal wird in der Zentrale Lech Wicinski abserviert, weil man auf seinem Dienstrechner massenweise pädophiles Schmutzwerk fand. Es nützte ihm nichts, zu beteuern, daß er das nicht heruntergeladen habe – was übrigens stimmt, was der Leser aber erst zum Schluß als wahr erfährt, aber von Anfang an ahnt. So sind dort die Methoden und natürlich hat der, der ihm das untergejubelt hat, dann mit dem aktuellen Fall direkt zu tun. . Aber bei Jackson Lamb geht es Lech erst mal nicht besser, denn dort müssen sie ja auch die Mär seiner angeblichen Pädophilie glauben und es gibt wenig, was andere Menschen so auf Abstand hält und Widerwillen erzeugt, wie Verbrechen gegen und mit Kindern.

Das ist der eine Strang, der andere beginnt mit dem Begräbnis der Geheimdienstlegende, dem Großvater von River Cartwright, dessen Fall uns die letzten Krimis in Atem hielt, weil er beim letzten Mal erst seinen Vater kennengelernt hatte, Frank Harkness, EX-CIA Agent, der – darüber lasen wir in den letzten Krimis - mit einer eigenen Kampftruppe politische und wirtschaftliche Aufträge erledigt, eine Spielernatur wie Jewgeni Prigoschin mit dem Unterschied, daß Harkness bis neun Seiten vor Schluß noch lebte, obwohl der Sensenmann, zu dem er ja selber zählt, um ihn herum heftig gemäht hat. Ach und kurz vor Schluß soll er in Frankreich tot aufgefunden worden sein! Und der Mörder war ein Deutscher vom BND, Martin Kreutzmern (Tarnname Peter Kahlmann), der aber in London seine Doppelagententätigkeit ohne Probleme ausübte, bis eben Lamb daherkam.

Aber von vorne: Also diesmal wird besonders viel gestorben, dabei fing es harmlos an. Slow-Horse-Mann Min ging beim letzten Mal drauf, seine Geliebte und Mitarbeiterin Louisa Guy wird von der Witwe dringend gebeten, nach dem plötzlich verschwundenen Sohn zu suchen, was diese tut und ihre Geheimdienstfähigkeiten beweist, denn ihr wird schnell klar, wo der Junge wohl steckt: in Wales. Dort spielt, bis auf die wie immer köstlich-absurden Szenen mit M15 Chefin Lady Di in London, das ganze Geschehen.

Mins minderjähriger Sohn Lucas hat zufällig, das erfahren wir aber erst später, einen größere Waffenübergabe von Harkness mitbekommen und statt dies der Polizei zu melden, von Harkness 50 000 Pfund für sein Schweigen gefordert. Die Übergabe des Geldes sollte in Wales sein. Das setzt nun mehrere in Bewegung. Die Drei um Harkness - einer ist der Deutsche Peter Kahlmann - verfolgen den Jungen, den neben Louisa nun auch weitere Slow Horses suchen, um ihn zu beschützen. Daß sich allerdings auch Jackson Lamb auf den Weg macht, hat mit der Person Harkness zu tun. Dieser richtet auch hier wieder unendliches Leid an, macht dabei aber immer eine von sich selbst überzeugte souveräne Figur. Sollte er wirklich tot sein, muß man allerdings auf solch hinreißende Szenen wie die, wo ihm sein Sohn River den Stiefel kaputtschießt, aber den großen Zeh dranläßt oder, um dessen körperliche Dominanz zu entgehen, ins Ohrläppchen beißt, in Zukunft verzichten.

Foto:
Umschlagabbildung

Info:
Mick Herron, Joe Country. Ein Fall für Jackson Lamb, Diogenes Verlag 2023
ISBN 978 3 257 30096 3