judeWiedergesehen, Wiedergelesen, Wiedergehört, Teil 32

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Diesmal geht es um das Hörbuch DIE JUDENBUCHE von Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848), eine Erzählung, die erstmals 1842 veröffentlicht wurde, wobei Reclam und Sony Music auf dem ausgesprochen schön gestalteten Umschlag der zwei CDs (Gesamtdauer über 2 Stunden) den Aufkleber haben: „Gelesen von HANS SIGL“, dem auf der Rückseite attestiert wird: „Mit dem unvergleichlichen Timbre seiner Stimme haucht er den Texten Leben ein und kreiert ein wahres literarisches Hörerlebnis.“

Aha, dabei hat mich etwas ganz anderes gefangen genommen! Was für eine Sprache! Wie sehr sind wir heute plattes Dahinreden, wie in den Kriminalfällen brave Zeit-, Orts- und Handlungsangaben gewöhnt, die wenig Intellekt erfordern, sie zu enträtseln, einfach, weil sie keine Rätsel enthalten. In DER JUDENBUCHE dagegen müssen Sie jedes Wort auf die Goldwaage legen. Selten haben ich sooft zurückgeschaltet, um den Sachverhalt genau zu verfolgen, denn die Autorin denkt nicht daran, uns einen Brei vorzusetzen, sondern bringt die einzelnen Zutaten gesondert, auf daß wir selbst uns eine Bresche schlagen in dem undurchsichtigen personalen Umfeld im entlegenen westfälischen Dorf B. zu Zeiten vor der Französischen Revolution von 1789.

Das beginnt gleich am Anfang, wo wir von einer Eheschließung hören zwischen einem Herrmann Mergel und einer Frau, die schon in der Hochzeitsnacht das Weite suchte und bald starb. Während wir uns noch um diese Gedanken machen, steht die nächste Frau längst auf der Matte. Margreth kommt aus gutem Haus, bringt Geld mit und scheint eigentlich eine Nummer zu groß für Herrmann, der ein Trunkenbold sondergleichen ist, weshalb er auch geschäftlich auf keinen grünen Zweig kommt. Keiner kann Margreth verstehen, die ihrerseits ihre Heirat als Mutprobe ansieht, denn sie ist der Überzeugung, daß es an ihr liegt, wenn sie ihren Mann nicht zu einem ‚sauberen‘ Ehemann hinbiegt. Und daß jede Frau selber schuld ist, wenn ihr mann sie schlecht behandelt. Vielleicht wäre sie ja angesichts seiner Sucht, die in regelmäßigen Schlägen ausartet, anderen Sinnes geworden, wäre ihr nicht Sohn Friedrich geboren, ein braves, etwas einfältiges Kind und ihre Freude.

Nein, wir wollen nicht die Geschichte im Detail hier wiedergeben, sondern die Ausgangssituation schildern, die in einem Drama endet, in dem immerhin mindestens drei Tote auf der Strecke bleiben, weshalb DIE JUDENBUCHE auch durchaus ein Kriminalfall ist, wichtiger aber ist die Schilderung des Lebens der Leute in diesem Dorf, ein Leben gekennzeichnet von Armut, Hunger, Diebstahl und einer Natur, also Wäldern mit Bäumen, die ein Eigenleben entwickeln, wobei Wetterphänomene ebenso zur Dramaturgie gehören wie der Aberglaube der Leute.

Es geht also um Friedrich Mergel, der erst neun Jahre alt ist, als sein Vater im Umfeld einer Buche eines Nachts bei Sturm, Eis und Schnee zu Tode kommt und die Familie verarmt und in der Hierarchie im Dorf ganz unten ankommt. Das soll sich, will sein Onkel und Bruder der Mutter Simon ändern. Der allerdings hat Methoden drauf, die eindeutig verbrecherisch sind, nach außen Hui, nach innen Pfui. Denn er ist – hier wieder die Meisterschaft der Droste, nur anzudeuten, aber nicht brav zu erzählen – das Haupt einer Diebesbande, die Holz stiehlt und das in großem Umfang. Aber nach außen ist er der gute Bürger und behandelt Friedrich schlecht, der das gleich weitergibt an Johannes Niemand. Das ist ein Schweinehirt, der große Ähnlichkeit mit Friedrich hat und unter der Hand als unehelicher Sohn Simons angesehen wird, den dieser nicht anerkennt.

Und dann wird Oberförster Brandis, der den Holzdieben im Wald auf der Spur ist, erschlagen. Nein, Friedrich war dies nicht, fühlt sich aber mit Recht mitschuldig, denn er hatte in dieser Nacht beim Holzdiebstahl Schmiere gestanden. Der nächste Tote unter der Buche ist Aaron. Der hatte Friedrich vorgeführt, als er beim Volksfest laut verkündete, daß er diesem vor einem halben Jahr eine Uhr verkauft habe, die dieser noch immer nicht bezahlt habe. Klar, daß Friedrich jetzt als Verdächtiger gilt, erst recht, als er vernommen werden soll, aber verschwunden ist, zusammen mit Cousin Johannes. Die Buche aber wird von der jüdischen Gemeinde gekauft und in ihre Rinde eingeritzt: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hat.“, weshalb sie fortan JUDENBUCHE heißt.

28 Jahre später, 1788, setzt die Geschichte fort, wenn zu Weihnachten ein Mann auftaucht, sich als Johannes Niemand outet, von der Versklavung durch die Osmanen berichtet, denen er entfloh und vom Dorfoberen durchgefüttert wird. Doch er verschwindet und wird später erhängt in der Judenbuche gefunden. Ein Schuldeingeständnis? Auf jeden Fall wird durch eine Narbe am Hals des Toten jetzt entdeckt, daß der Erhängte Friedrich Mergel ist, der Verschollene. Ist das ein Schuldeingeständnis, daß er einst den Oberförster erschlug? So einfach ist das nicht, denn er hatte damals ja ein Alibi. Aber wie war es dann?

Darauf gäbe es mehrere Antworten, denn Annette von Droste-Hülshoff ist das Paradebeispiel einer unzuverlässigen Erzählerin. Sie führt uns mit Absicht und auch so nebenbei immer wieder in die Irre. Das macht Spaß, auch wenn die Geschichte selbst düster ist, weil sie knallhart zeigt, wie aussichtslos das Leben vieler von Anfang an war. Insofern ist die Erzählung sozialkritisch, ohne Kritik zu äußern. Das liest der heutige Leser , der nach Proust ein Leser seiner selbst ist, also aufgrund eigener Erfahrungen und Einstellungen Texte interpretiert, einfach mit. 


Foto:
Umschlagabbildung

Info:
Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche, gelesen von Hans Sigl, 2 CD, Gesamtdauer 2:7:14, nach Reclams Universal-Bibliothek Nr. 1858, ungekürzte Fassung, Sony Music Entertainment Germany
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