UNSCHULD von Jonathan Franzen aus dem Verlag Rowohlt/ Hörverlag erzählt von Sex und Crime, Wahrheit und Lüge, Männer und Frauen, aber wie!, Teil 2/2

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Hier wäre Raum, auch inhaltlicher über Anabel zu sprechen, die mittellose Milliardenerbin, die aus rigoroser Abneigung gegen die Welt des Geldes dieses verschmäht, obwohl sie weiß, daß ihre Tochter Pip 130 000 Dollar Studienschulden hat. Diese Frau hat etwas derart Absolutes, daß man hin und her gerissen ist.

 

Gerissen und geschüttelt zwischen dem Einverständnis ihrer sauberen moralisch integren Art und angewidert über derartige Fehleinschätzungen eines letztlich im Freudschen Sinne analen Charakters, der Sauberkeit mit Putzzwang verwechselt, wobei es bei ihr ums Riechen geht. Sie riecht dauernd etwas Unangenehmes. Franzen läßt dieser Figur ihr Changieren zwischen den Polen. Auf jeden Fall bindet Anabel ihre Tochter Pip nicht weniger dogmatisch an sich, als es in der DDR Katya Wolf mit ihrem Sohn Andreas getan hatte. Irgendwie reziprok ödipal.

 

Leider haben wir die tragenden Handlungsträger von UNSCHULD, die miteinander verschränkten und verbandelten Personen, immer noch nicht zusammen. Denn auch Celia spielt eine wichtige Rolle. Sie lebt in Jena zu DDR-Zeiten, wird von ihrer Mutter schikaniert und 'macht rüber' nach Westberlin, diesem Sündenbabel, wo sie gleich am ersten Abend einen grundsoliden Amerikaner kennenlernt, der sie vor der Anmache anderer Männer rettet, heiratet und in die USA mitnimmt. Beide sind die Eltern von Tom Aberant. Wir sind übrigens über Raum und Zeit nicht chronologisch im Roman verankert. Und genau das macht den Reiz aus. Man muß manchmal schon einige Seiten ins Blaue lesen, bevor man weiß, um wen es geht, wo man ist und zu welcher Zeit. Aber dann ist man glücklich.

 

Über Annagret aus Ostberlin/Leipzig wurde viel zu wenig gesagt, ihre Verknüpfung mit Andreas Wolf ist die schicksalhafteste und sie versteht sich gut mit der Mutter des Andreas, einer Anglistikprofessorin in der DDR, einer gewissermaßen hybriden Frauenfigur, die Franzen hier geschaffen hat, dem die Frauen und Frauenbeschreibungen wohl generell mehr liegen, will heißen, denen er mehr Sympathie und Verständnis entgegenbringt. Hier brechen wir ab, denn den Krimielementen im Roman wollen wir nicht vorgreifen, das SEX und CRIME in der Überschrift stimmt, schließlich geht es um mehr als einen Mord und zum Sex kommen wir weiter unten. Jetzt zum Gehalt des Romans, eine kleine Analyse.

 

 

Horch und Guck, von der DDR ins Internet

 

Beim ersten Mal zuckt man noch zusammen, beim zweiten Mal denkt man schon selber, aha, früher die DDR als Überwachungsstaat, jetzt die Organe der USA als permanente Stasi, als Lauscher und Horcher, denen der deutsche Ritter Andreas Wolf den Kampf ansagt und nun wiederum diese überwacht und kontrolliert und deren Vergehen an die Öffentlichkeit bringt. Wie er das tut und mit Charisma seine Anhängerinnen beschläft und zur enthusiastischen Mitarbeit beim Enthüllungshacken bringt, allerhand. Und schon hier beschleicht einen die Ahnung, daß die ehemalige Trennung von Privat und Öffentlichkeit, eine bürgerliche Errungenschaft, die offiziell bis heute besteht, im Internet so aufgehoben ist, wie es die Stasi in der DDR gerne gehabt hätte, aber nie erreichte.

 

Franzen beschreibt hier etwas, das wir doch alle fassungslos registrieren und als Umkehrung der Verhältnisse von gestern wahrnehmen. Früher wollte man das Private bewahren – vor anderen, vor dem Staat auch, heute wird es per Facebook und Twitter in die Welt hinausposaunt und diejenigen, die das nicht tun, werden von staatlichen Organisationen der USA in der ganzen Welt abgehört, überwacht und kriminalisiert. Dabei geht es den Horchern und Guckern selten um private Nutzung, die man von einer Überwachung hat, wie der, daß man heimlich die Telefonliste des Liebsten auf dem Handy liest, um herauszubekommen, ob er etwa noch eine weitere Liebste hat. Nein. Es sind die Menschen hier nicht zum eigenen Nutzen die HORCHER UND GUCKER, sie sind jeweils für höhere Aufgaben instrumentalisiert, ach nein, instrumentalisieren sich mit Lust selbst. Da kann man ja nicht mehr von Manipulation reden, wenn das so offen daherkommt, oder höchstens in dem Sinne, wie man sich selber manipuliert, ohne es zu merken.

 

 

Deutschland, deutsche Frauen und deutsche Männer

 

Das war mir die größte Überraschung, daß Franzen einen Roman über Deutsche schreibt. Deutsche, wer sind die? Was ist eine deutsche Frau, ein deutscher Mann? Und welche Eigenschaften zeichnen sie aus, worin unterscheiden sie sich von den anderen Europäern und erst den US-Amerikanern. Sie tun es. In UNSCHULD könnte man Seiten füllen, mit Angaben, was für Franzen deutsch, besonders typisch deutsch ist. Das ist mal gut, mal schlecht, mal eben dem analen Charakter entlehnt, mal großzügig und weltbeglückend. Mehr gut übrigens als schlecht, zusammengenommen. Nur, was sind Volkscharaktere? Zumal Franzen das 'herzzerreißende“ Deutsche in der DDR ansiedelt, noch mehr, die ganze Republik ist herzzerreißend deutsch. Doch, da ist was dran. Lesen Sie selbst.

 

 

Und dann noch etwas, was auffällt. Soviel wie hier gerammelt, masturbiert, sexphantasiert wird, Pornos im Internet geguckt, anal verkehrt wird, als Wunschdenken und als Bestrafung, also, das geht auf keine Kuhhaut. Vielleicht hätten die beiden Übersetzer doch einmal eine andere Wortwohl wählen sollen, als das ständige 'Kommen', für den zumindest formal geglückten Koitus oder die entsprechende Masturbation. Wir wissen nicht, wie es sich im Amerikanischen anhört, ob dort die Wortwahl auch so buchhalterisch daherkommt. Ein bißchen Ekstase hätte es hier schon sein können, wenn Franzen die fast immer juvenilen Hormonüberschüsse so überdeutlich und anhaltend beschreibt.

 

 

Was noch auffällt

 

Die Figuren, die hier nur angerissen und noch nicht einmal alle erwähnt sind, sieht man leibhaftig vor Augen, fein gezeichnet mit einer leichten Ironie, die schwer zu beschreiben ist, weil sie nichts Sarkastisches hat, erst recht nichts Zynisches. Es ist eher die Distanz des Olymps, weil von oben her gesehen, allen irdischen Anstrengungen die Leichtigkeit der Erkenntnis gegenübersteht: es könnte alles auch anders sein. Das hebt das Schwere auf, denn das ganze Buch besteht aus Existentiellem, wo es um das Morden geht, sowohl in der wirklichen Welt, wie auch in der der psychischen Schmerzen, wie Menschen absichtlich und mit der Begründung, es geschehe aus Liebe, sich den kleinen Tod geben.

 

Diese Ironie, die Scherz, Satire und tiefer Bedeutung einschließt, umfaßt nicht nur den Stil, sondern die Anlage der Personen: Der, der andere entlarvt, hat selbst das schlimmste Geheimnis. Wer tötet, tötet sich auch selbst. Pip, die Unschuld, verrät alle. Und sie weiß das auch im Moment des Verrats und kann nicht anders. Tom, der tumbe Tor, hat seine Liebe verraten und wird nie wieder so lieben können. Clelia ist als dumme Deutsche dem amerikanischen Traum verfallen, rechtsradikal geworden und erlebt zurück in Jena zu Zeiten des Mauerfalls die Wärme ihrer Verwandten, die sie in den USA Jahrzehnte vermißte. Annagret ist diejenige, die wir am wenigsten kennenlernen, nur als Funktion des Andreas, wofür es gute Gründe gibt. Und von Lelia, die mit Tom lebt, und zu Hause einen Mann im Rollstuhl hat, haben wir noch gar nicht gesprochen. Wie sagten wir: Lesen!

 

 

Info:

 

Jonathan Franzen, Unschuld, Rowohlt Verlag 2015

 

 

Jonathan Franzen, Unschuld, Ungekürzte Lesung

Gelesen von Sascha Rotermund, Walter Kreye

Originalverlag: Rowohlt Verlag

Übersetzt von Bettina Abarbanell, Eike Schönfeld

4 MP3-CDs, Laufzeit: 1557 Minuten

ISBN: 978-3-8445-1962-4

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