Serie: LONDON. Porträt einer Stadt von Reuel Golden bei Taschen, Teil 2/2

 

Anna von Stillmark und Claudia Schulmerich

 

Hamburg (Weltexpresso) – Aber, was sind das für Fotografien! Allein auf Seite 27 die ganzseitige Aufnahme von der Anfahrt zum Obst- und Gemüsemarkt Covent Garden, den es noch heute – allerdings sehr edel – neben dem gleichnamigen Opernhaus gibt. Mit solchen Planwagen fuhren die Bauern und Händler vor, mit den Körben transportierten sie das Gut zum Markt, vier Körbe auf einmal. Wozu hat der Mann denn einen Kopf! Die Regent Street, St. Martin-in-the-Fields – ab 1722 noch auf Feldern am späteren Trafalgar Square erbaut - , den von Paxton entworfene Kristallpalast im Hyde-Park, der Ort der ersten Weltausstellung 1851.

 

Die eindrucksvollen Fotografien beschwören in ihrer Dichte die Aufbruchstimmung dieses Jahrhunderts , ein wenig auch die reichen Leute, hauptsächlich aber die Ottonormalverbraucher, die hier Kinder in Battersea oder ein Kasperletheater auf der Straße zeigen, das die geschwätzigen Weiber da, gut angezogen im anständigen viktorianischen Stil und die Hutschachtel in den Händen, rechts liegen lassen, weil ihnen der Klatsch wichtiger ist. Männer sind in der Regel tätig, sie kleben Plakate, fangen Fische, verkaufen, verkaufen, verkaufen und ab und zu repräsentieren sie auch, wie hier die Werbeoffiziere an der King Street, die Freiwillige rekrutieren wollen. Das ist nämlich ein Kulturgeschichtsbuch, wie es im Buche steht, eben, dieses überdimensionale Taschenbuch.

 

Auf das 19. Jahrhundert folgen MODERN TIMES von 1902 bis 1938, hier bis Seite 215. Bei den überwiegenden Schwarzweißaufnahmen fallen die wenigen Buntfotografien sofort auf. So ein wenig sehen sie koloriert aus und typisch ist, daß man mit den Schultern zuckt und einen die heißen Schwarz-Weiß-Bilder mehr interessieren. In diesen Jahren gibt es viele Innenaufnahmen von Mitgliedern der Oberschicht, die in schönen Kleidern in großen Wohnzimmern etwas trinken oder zusammen spielen. Das ist atmosphärisch gelungen, aber auch die beiden Schönen auf Seite 163, die 1929 ihre Taxifahrt bezahlen, mit Bubikopf und den gewissen Hütchen, dem Pelz dazu und auf Hochhackigen, das macht schon was her, erst recht in Verbindung mit dem Londoner Wind!

 

Ein Kulturdenkmal in Person ist Paul Poiret, französischer Modemacher, der hier 1924 mit sechs Modellen in Londons Victoria-Bahnhof ankommt. Er hat die Frauen vom Korsett befreit und den langen Schlauchrock, vor allem auch den Hosenrock erfunden. Das Bild müssen Sie sich anschauen, wie er im Tigerlook – als echter Dandy trägt er den Pelz innen – und Gamaschen als Sieger der Geschichte dasteht. Dabei war er kurz darauf Bankrott, denn die Chanel machte die Frauen mit ihrer Mode schöner.

 

Nein. So langsam dürfen wir jetzt nicht durchs Buch schleichen. Individuell schon, denn jede Seite ist es wert, angeschaut und reflektiert zu werden. Die drei folgenden Kapitel sind: 1939 – 1959. Die Folgen des Krieges bis Seite 323; 1960 – 1981. Die Party und der Morgen danach bis Seite 435 und 1982 bis heute bis zur Seite 510, wobei die Seiten 508 und 509 besonders interessant sind. Sohei Nishino hat eine Diorama-Karte von London erstellt, indem er Tausende von Fotografien bei Wanderungen durch London aufnahm und diese zu einem riesigen Stadtplan zusammensetzte, der einem dreidimensional vorkommt, weil die Gebäude aufrecht stehen. Ein irres Bild und ein Sinnbild für dieses unglaubliche Völker- und Zeitengemisch in London auch.

 

In den angeführten Kapiteln finden Sie alles das, was unsere Gegenwart mitbestimmt. Die Kriegsfolgen, die Königsfamilie, d.h. die immerwährende Herrschaft der disziplinierten Elizabeth II., die Blumenkinder der Sechziger, die Beatles, die neue Ökonomie, sprich Verarmung der Bevölkerung unter Margret Thatcher, während der Wohlstand der Wenigen wächst. Ja, London ist so richtig ein Ort zum Geldausgeben, das auch noch. Hier finden sich nun auch berühmte, auch deutsche Fotografen, die London ihren Stempel aufdrücken.

 

Das Schräge London zeigt sich wie auch dasjenige, das die Prominenten anzieht. Amy Winehouse ist hier im Jahr 2008 noch lebendig und der Modeschöpfer Alexander McQueen in der Fotografie von Anton Corbijn auch noch. Die Personen und Orte, die man erwähnen möchte in den viel zu vielen Fotografien hören nicht auf.

 

Info zum Gebrauch des Buches: Das Buch endet mit dem Hinweis auf Peter Ackroyds LONDON. Eine Biographie. Das stimmt schon. Dies Buch von Taschen ist mehrere Leben über zwei Jahrhunderte in einem dicken Band auf über 500 Seiten. Aber man hat nicht genug. Wer noch mehr wissen will, kann also im Ackroyd weiterlesen. Er kann aber auch die unten aufgeführten Links in dieser Zeitung aufrufen, denn auch wir haben Grund gehabt, viel über London zu schreiben.

 

Zuvor aber wollen wir noch den Anhang loben. Da gibt es Kurzbiographien zu den Fotografen, die wir hier in den Texten fast vollständig unterschlagen haben, auch Frauen sind darunter, aber auch geschichtlich bedeutsame Personen wie beispielsweise Anthony Armstrong-Jones, der als Lord Snowdon Prinzessin Margaret heiraten durfte. Bekannt ist auch Cecil Beaton, der Meistermodemacher von Frauen, und so viele andere, daß das Verzeichnis 19 eng beschriebene Seiten umfaßt. Eine schöne Idee ist es, dann auch noch Filmempfehlungen auszusprechen. Die erste ist BLACKMAIL von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1929! Der hatte doch damals tatsächlich schon gefilmt. Andere Filme von ihm, die in London spielen, werden dann unterschlagen, aber dies papieröffentlich.

 

Darunter für uns viele Neuheiten. Noch nie hatten wir von PASSPORT TO PIMPLICO gehört, aus dem Jahr 1949 von Henry Cornelius. Das ist eine Komödie – lesen wir -, die absurd und fröhlich die Explosion einer Bombe in der Nachkriegszeit zeigt (?) und überhaupt alles ein bißchen anders erscheinen läßt, denn Pimplico, nahe der Victoria-Station, gehört im Film zum französischen Burgund(?). Nein, darauf können wir uns keinen Reim machen, aber das muß man auch nicht bei 51 Filmen, die hier aufgeboten werden, wobei schon allein die Dickens-Verfilmungen einen gut Teil ausmachen. Carol Reed, ja, der vom Kultfilm DER DRITTE MANN, hatte 1968 OLIVER! verfilmt, das muß Oliver Twist sein und dafür den Regie-Oscar erhalten, das haben wir behalten.

 

BLOW-UP von Michelangelo Antonioni von 1966 ist auch dabei und die LADYKILLERS; von denen man eigentlich nur Alec Guiness erinnert, weniger, daß Alexander Mackendrick den Film 1955 gedreht hat. A CLOCKWORK ORANGE, die Romanverfilmung durch Stanley Kubrick bringt die Monsterbauten von London zum Einsatz und David Lynch nimmt die Monströsitäten des 19. Jahrhunderts mit THE ELEPHANT MAN in den Blick. Stephen Frears steuert Filme bei, die in den Sechzigern und Achtzigern spielen und typisches London zeigen, während Tom Hooper mit THE kING'S SPEECH die Monarchie menschlich macht. Schon wieder ein Oscar! Ja, London macht was her.

 

Aber, das war noch nicht alles: Musikempfehlungen gibt es auch. CLIFF von Cliff Richards ist auch dabei, und so viel von den Rolling Stones, The Kinks, The Who, Dusty Springfield, den Beatles, David Bowie, Elton John, Sex Pistols und so vielen anderen modernen Schmetterern. Schade, daß die Musikempfehlungen erst mit HAMMERSMITH von Gustav Holst beginnen, der an diesem Londoner Vorort die Gezeiten der Themse musikalisch nachempfindet. Aber auch zuvor gab es so viele Musicals und sogar Opern, die man hätte aufführen können. Da ist dieseS schöne Taschenbuch ein wenig zu sehr dem Pop-Song verfallen.

 

Die Literaturempfehlungen allerdings, die beginnen dann rechtzeitig mit VANITY FAIR, diesem hinreißenden Wälzer von w.M.Thackeray von 1848, der satirisch das aufgeblasene London schon vorwegnimmt. Die Dickens-Romane, einer nach dem anderen ein Sittenbild Londons und darum auch eines der Zeit der beginnenden Industrialisierung. Die Gruselgeschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson von 1886 darf nicht fehlen, wie auch der Sherlock Holmes von Sir Arthur Conan Doyle, dessen erster Band 1887 erschien. Oscar Wildes Dorian Gray folgte 1891 und wir müsse uns jetzt am Riemen reißen, denn mit einem Male liegt die ganze englische Literaturgeschichte der letzten zweihundert Jahre zu unseren Füßen, weshalb wir mit dem vorletzten Buch enden, mit SATURDAY VON Ian McEwan, einem echten Londonbuch.

 

Was uns allerdings auffällt, das ist, wie eng die Literatur auf das Englische bezogen ist. Denn der Deutsche Buchpreis 2006 ging an DIE HABENICHTSE von Katharina Hacker, die ihr junges Paar nach London ziehen läßt und darin London ausführlich beschreibt. Der INDEX schließlich hat hier für uns eine neue Dimension. Jawohl, in ihm sind die Namen auf drei Seiten alphabetisch aufgeführt. Das kann man schnell überfliegen und kommt dann drauf, daß auch Schauspieler Hugh Grant auf Seite 535 vorkommt, die feine Lady Godiva auf Seite 376, Madonna auf Seite 520, aber auch Napoleon III. Auf den Seiten 9,11,15, 17, 23 und 25! Mussolini auch viermal, aber Marilyn Monroe nur zweimal, dafür ihre Nachfolgerin als Ehefrau des amerikanischen Schriftstellers Arthur Miller in vierfacher Erwähnung.

 

Diese Inge Morath war nämlich eine berühmte österreichische Fotografin und hat auch immer wieder in London Aufnahmen gemacht. Sie selbst war ab 1962 mit Miller verheiratet und blieb dies ganz gegen amerikanische Gewohnheiten der Berühmtheiten bis zu ihrem Tod im Jahr 2002. Ja, da kommt man schon ins Räsonieren, wenn man mit London erst anfängt, denn London ist einerseits die geschichtliche Welt Englands, andererseits das globale Dorf der Welt, was aus der Geschichte des Commonwealth leicht zu erklären ist. Ein Buch fürs Leben.

 

Reuel Golden ist Lektor für Fotografiebücher bei Taschen, hatte u.a. das Buch über New York herausgegeben und sowohl dort wie auch in London gelebt, wo er aufwuchs.

 

Reuel Golden, LONDON. Porträt einer Stadt, dreisprachig Englisch, Deutsch, Französisch, Verlag Taschen 2012

 

www.taschen.com

 

 

Elizabeth II. im Weltexpresso:

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/unterwegs/409-god-save-the-queen

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/unterwegs/410-macht-und-liebe-in-england-und-im-film

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/454-ein-leben-auf-dem-thron-ihr-erinnerungsalbum-aus-dem-elisabeth-sandmann-verlag

 

 

Dickens:

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/411-die-ausstellung-dickens-und-london-im-museum-of-london

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/412-die-dickens-ausstellung-in-london-erzaehlt-von-einem-mann-und-seiner-stadt

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/413-nicht-alle-13-143-literarischen-figuren-dickens-sind-in-seiner-londoner-ausstellung

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/673-hans-dieter-gelferts-charles-dickens-der-unnachahmliche-aus-dem-c-h-beck-verlag

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/681-verschraenkung-von-leben-und-werk-in-gelferts-dickens-biographie-im-beck-verlag

 

 

Elizabeth II.:

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/641-thomas-kielinger-save-the-queen

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/642-thomas-kielinger-als-fan-der-queen