Lesung von SUFF UND SÜHNE, erschienen bei Litradukt,  im Weltempfänger Salon in Frankfurt

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eigentlich ist er ‚nur‘ Übersetzer und Verleger der Bücher von Gary Victor, Peter Trier aus Trier, aber an diesem Abend moderierte er auch zweisprachig im Haus des Buches, wo der Haitianer Gary Victor auf Französisch las, dessen deutsche Übersetzungen Jochen Nix gewohnt eingängig ins Ohr träufelte.


Begrüßt hatte das zahlreiche Publikum im Haus des Buches in der Braubachstraße Anita Djafari (Litprom), die Peter Trier und den Autor vorstellte, der ja in Haiti ein bekannter Mann ist, nicht nur der Krimis wegen bekannt, dessen Inspektor Dieuswalwe Azémar eine Berühmtheit für sich ist. Denn eigentlich ist der Kriminalromanverfasser auch Drehbuchautor, Romancier,  Journalist, Kolumnist und wurde vor allem bekannt durch seinen Roman WO DIE PARALLELSTRASSEN SICH KREUZEN...Wie, was? Da erkennt man im Titel schon den Aberwitz des Autors, dem viele Attribute zukommen, von denen „surrealistisch“ besonders auf der Zunge liegt. Das klingt spannend, doch auf Deutsch gibt es nur – und auch das einzig Verdienst seines Übersetzers und Verlegers Peter Trier, seine drei Kriminalromane um den Inspektor  Dieuswalwe Azéma, dessen dritter heute im Mittelpunkt steht.

Dieser Inspektor Dieuswalwe Azémar  wird vom Verfasser kurz vorgestellt. Er leidet an seinem Land, verzweifelt an den Zuständen in Haiti, ist einer, der mit dem Zeigefinger schnell ab Abzug ist und, wenn seine Dienstwaffe wieder mal eingezogen ist, auf seine Beretta für die heiklen Fälle zurückgreifen kann. Jetzt aber ist er aus dem Verkehr gezogen, denn sein Chef hat ihm eine Entziehungskur verordnet...und wer Genaueres wissen will, soll sich die Buchbesprechung anschauen.

Jochen Nix beginnt auf der ersten Romanseite. Das ist diese tolle Geschichte von der Tarantel, die ihm seine Entzugstherapie vorgaukelt und die den Leser schaurig hineinzieht in seinen Schlamassel. Mit „Keine Bewegung, Inspektor. Ich will mir Zeit lassen.“, endet 12 Seiten weiter das erste Kapitel. Wer da spricht? Eine schöne Frau, denn die gibt es in Victors Romanen Gott sei Dank immer wieder. Mal sind sie gut, mal sind sie schlecht, mal überleben sie, mal nicht. Diese hier ist...

Peter Trier verwickelt seinen Autor nach den Lesephasen jeweils in ein Gespräch über die Personen, von denen man hörte, oder Geschehnisse, die auffielen. Da Azémar diese haitianische Welt nur im Suff ertragen kann und auch für seine gefährlichen Aktionen einen gewissen Alkoholspiegel braucht, muß man einfach nachfragen: Warum eine Entziehungskur. Tatsächlich hat ihm diese Idee eine Leserin suggeriert (Wir waren es nicht, hätten es aber auch vorgeschlagen!). „Ich fand das Thema Entzug interessant. Mir hat die Idee gefallen, Delirien, Krisen, wo man auf sein Leben zurückblickt.“, meinte Gary Victor, für den auch passend für seine Kriminalromane ist, daß so das Unterbewußte ans Licht kommt. Azémar leidet an Schuldgefühlen, weil er getötet hat, er ist sehr religiös erzogen und hin und hergerissen zwischen allen Ansprüchen an ihn, auch die, die er an sich selbst stellt.

Jochen Nix liest das zweite Kapitel: „Die junge Frau gab endlich ihre wahre Natur zu erkennen...“ Wir erfahren im Gespräch, wie sehr das damalige UNO-Mandat von 1995-97, wo Brasilien das Hauptkontingent stellte, vom diktatorisch waltenden Staatspräsidenten unterlaufen wurde, der in Komplizenschaft Gangs in der Hauptstadt gewähren ließ, insbesondere verdienten Zwischenhändler und Halunken enorm an den NGOs, die viel Geld in Haiti ließen. Funktionäre dieser internationalen Organisationen verdienten in Haiti geradezu fürstlich 2 000 Dollar pro Tag und ein Auto, 10 000 kostete ein Haus. „Das haitianische Volk bekam die Krümel.“, so Victor.

Länger ging der Autor noch einmal auf den Namen und die Persönlichkeit seiner literarischen Figur ein, die er als zerrissen bezeichnet. Er ist stolz auf seinen sozialen Aufstieg, aber er trägt eine Grundtraurigkeit in sich.

Spannend dann, nach dem Lesen auf Französisch und einem weiteren Kapital auf Deutsch, die Fragen aus dem Publikum. Diese – zahlreich und meist auf die Verbindung von Roman und Wirklichkeit gerichtet – galten immer wieder der heutigen Lage in Haiti und auch der literarischen Einordnung seiner Kriminalromane. Daß diese Teil des magischen Realismus Lateinamerikas sind, wird bejaht und daß Kriminalromane doch nicht die große Literatur seien, verlacht.

Ganz deutlich sprach sich Gary Victor dafür aus, Haiti sehr differenziert zu betrachten. Noch sei vieles im Argen und die gesellschaftliche Lage, Reichtum bei wenigen, bitterste Armut bei vielen, bedinge einfach eine auf Gerechtigkeit und Leben ausgerichtete Politik. Aber immerhin gäbe es Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Veröffentlichungsfreiheit, von denen man halt Gebrauch machen müsse. „Ich muß keine Angst haben“, war ein starkes Schlußwort einer rundherum geglückten Autorenlesung.


Foto: © Aida Roumer


Info:  Lesung am 22.3. im Haus des Buches, Braubachstraße 16, Frankfurt

Gary Victor, Schuld und Sühne,  160 Seiten, Aus dem Französischen von Peter Trier, Verlag Litradukt 2017 ISBN: 978-3-940435-20-0

 

Die Lesereise findet derzeit statt: https://weltexpresso.de/index.php/buecher/9540-gary-victor-suff-und-suehne

noch Termine in:

1. April: Bremen
3. April: Berlin
4. April: Hannover
5. April: Dresden
6. April: Magdeburg
7. April: Eschborn


Autorenportrait des Verlages

Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, studierter Agronom, gehört zu den populärsten haitianischen Gegenwartsautoren. Außer Romanen, Erzählungen und Theaterstücken schreibt er auch Beiträge für Rundfunk und Fernsehen, die in Haiti regelmäßig für Aufregung sorgen. Einige seiner Gestalten sind zu feststehenden Typen geworden. Im deutschsprachigen Raum wurde er durch die Krimis Schweinezeiten und Soro bekannt, die sich beide auf der Krimibestenliste der ZEIT sowie auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger platzieren konnten.  Seine drastischen Schilderungen gesellschaftlicher Missstände stellen ihn in die Tradition der Sozialromane des 19. Jahrhunderts und machen ihn zum subversivsten Gegenwartsschriftsteller Haitis. Er wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Prix RFO ausgezeichnet.