f leanderfilmstartsSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. September 2017, Teil 8

Filmheft

Berlin (Weltexpresso) – Leicht gebeugt ist sein Gang, etwas wacklig der Schritt. Doch aufhalten lässt dieser Mann sich nicht: Auf seine alten Tage zieht er noch einmal los, um tief in die eigene Geschichte einzutauchen. Um die Dämonen der Vergangenheit zu besiegen. Und, vielleicht, ein wenig Frieden zu finden.

Wie eine Naturgewalt kommt Eduard Leander (Jürgen Prochnow) daher, gerade erst verwitwet – und endlich frei, den eigenen Wünschen und Sehnsüchten nachzugeben, ganz egal, was Tochter und Enkelin dazu sagen. Er ist, um einen anderen Filmtitel zu paraphrasieren, der 92-Jährige, der in den Zug stieg und verschwand.

Leanders letzte Reise handelt von Schuld, Sühne und Familiengeheimnissen. Und von den Gräben zwischen den Generationen, die mehr als offensichtlich werden, wenn Eduards rebellische Enkelin Adele (Petra Schmidt-Schaller) zum Bahnhof eilt, um ihren störrischen Großvater von seinem Trip in die Ukraine abzuhalten. Ausgerechnet die Ukraine! Ein Land, in dem es 2014 dampft und brodelt, in dem stündlich ein handfester Bürgerkrieg auszubrechen droht. Eduard jedoch beeindruckt das nicht: Er wird die Reise fortsetzen, ganz gleich, was die Familie dazu sagt. Und so ruckeln sie Richtung Osten, der wortkarge Greis und die schmollende Aussteigerin – und bekommen vielleicht zum ersten Mal überhaupt die Gelegenheit, etwas übereinander zu erfahren.

Vordergründig erzählt Regisseur Nick Baker Monteys (DER MANN, DER ÜBER AUTOS SPRANG) also eine Familiengeschichte: die persönliche Geschichte einer späten, aber nicht zu späten Annäherung unter ziemlich abenteuerlichen Bedingungen. Anfangs müssen wir uns noch fragen, welches Geheimnis der eigenwillige Alte hütet, welche Ereignisse zur Zerrüttung seiner Familie geführt haben, und nicht zuletzt, welche Antworten in der fernen Ukraine auf ihn warten. In diesem Sinne ist Leanders letzte Reise ein stimmungsvolles, abwechslungsreiches und amüsantes Roadmovie. Doch der Film hat noch eine weitere Ebene: Er verknüpft zwei zentrale europäische Konflikte auf komplexe Weise miteinander, den Zweiten Weltkrieg, der bis heute tiefe Spuren in den Biografien der Menschen hinterlässt, und den 2014 eskalierenden Ukraine-Konflikt, der einerseits mit der Historie korrespondiert, andererseits ein bedeutendes aktuelles Sujet mit großer politischer Sprengkraft ist.

Baker Monteys behandelt die im Kino selten thematisierten Verbindungslinien zwischen Deutschland, Russland und der Ukraine. Er verzichtet auf Klischees und zeichnet stattdessen ein differenziertes Bild aller beteiligten Parteien: Trennlinien verlaufen quer durch deutsche und ukrainische Familien; in beiden Kriegen gab bzw. gibt es Allianzen, die sich nicht an Ländergrenzen orientieren. Der Film beschreibt dabei auf subtile Weise die allmähliche Annäherung aller Protagonisten, insbesondere zwischen dem Großvater und seiner Enkelin: Adele erfährt immer mehr Details aus seiner Vergangenheit, Dinge, die sie weder wusste noch ahnte, für die sie sich im Grunde auch nie interessierte, die ihr nun aber die Augen öffnen. Sie erfährt (und wir mit ihr), dass man mit simpler Schwarzweißmalerei nicht weiterkommt und dass es ein schwerer Fehler war, sich so wenig für die eigene Familie zu interessieren. Auch Eduard, anfangs ein verbitterter alter Mann, interessiert sich ganz allmählich mehr für Adeles Lebenssituation. Dem Film gelingt es, diese Annäherung auf sehr überzeugende Weise zu schildern. Sie vollzieht sich in kleinen Schritten, läuft dezent und damit äußerst glaubwürdig ab.

Ähnlich vielschichtig entwickelt sich das Verhältnis zwischen Adele und dem jungen Ukrainer Lew (Tambet Tuisk), auch er ein Grenzgänger zwischen gleich drei Ländern. Nach einem gemeinsamen Drogentrip und einem spontanen Quickie auf der Zugtoilette beginnt zwar noch längst keine „knisternde“ Liebesgeschichte, sondern – viel realistischer – eine von Neugier und Sympathie geprägte Annäherung, deren weiterer Verlauf vollkommen offen ist.

Die Geschichte entwickelt im Lauf der Erzählung eine unglaubliche emotionale Wucht, dennoch ist der Stil des Films lakonisch und unaufdringlich: Er verzichtet auf Pathos und Rührseligkeit und setzt stattdessen auf Realismus. Seine Botschaften werden nicht vordergründig präsentiert, sondern entwickeln sich ganz organisch aus der dargestellten Familiengeschichte. Auch in visueller Hinsicht ist es ein herausragendes Werk. Besonders die poetischen und bildmächtigen Landschaftsaufnahmen, die das Voranschreiten der Zugfahrt dokumentieren, sind ein Genuss. Geradezu spektakulär sind auch die Flugaufnahmen von Kiew und anderen Städten in der Ukraine. Diese Bilder sind zugleich berückend und erdrückend; sie zeigen den Zuschauern eine fremde Welt, die von graphischer Schönheit und karger Tristesse ist, eine Welt, die zunächst undurchdringlich und unerreichbar scheint, die im Lauf des Films aber immer transparenter und verständlicher wird.

Jürgen Prochnow, in Wirklichkeit knapp 20 Jahre jünger als Eduard Leander, spielt den grimmigen Tattergreis dank perfekter Maske mehr als überzeugend. Petra Schmidt-Schaller, sonst eher als blonder Engel unterwegs, begeistert als junge Frau, der die Wunden ihres dysfunktionalen Backgrounds in jeder schnoddrigen Geste anzumerken sind. Suzanne von Borsody gelingt in ihren wenigen Szenen das Kunststück, den „Sandwich-Charakter“ ihrer Figur zu transportieren: Ihre Uli leidet gleichermaßen unter Vater und Tochter, muss aber auch erst lernen, dass zu einem schwierigen Verhältnis immer zwei gehören. Eindrucksvoll ergänzt wird das Trio vom estnischen Schauspieler Tambet Tuisk, der nach POLL und Kurzauftritten in TSCHILLER: OFF DUTY und ICH UND KAMINSKI längst kein Newcomer mehr ist.

Leanders letzte Reise ist ein komplexes Drama mit vielschichtigem Drehbuch, glaubwürdigem Cast und großartiger Kameraarbeit. Der Film ist unterhaltsam, regt zum Nachdenken an, vermittelt wichtige Botschaften und findet für ein schwieriges Thema die richtige Balance.


Ausgezeichnet mit dem „Prädikat besonders wertvoll“

Auszug aus der Jury-Begründung

„Wenn man so will, ist dieser Film eine Parabel für die Geschichte so vieler deutscher Familien, die noch durch Naziherrschaft, Kriegsschrecken und Holocaust geprägt wurden ...
Ein gut recherchiertes Drehbuch verbindet diese historischen und aktuellen Bezüge sehr geschickt und gibt auch interessante Einblicke in familiäre Konflikte in der Ukraine ... Jürgen Prochnow spielt auf eindrucksvolle Weise den großen Schweiger, der sich aber am Ende seiner Suche mehr und mehr seiner Enkelin zu öffnen vermag und schließlich auch seinen ganz persönlichen Frieden findet ... Petra Schmidt-Schaller glänzt als spröde und bindungsunfähige junge Frau, die aber auf der schicksalsträchtigen Reise durch die Ukraine zu sich und auch ihrer Familie zurückfindet. Ein besonderes Lob verdient auch Tambet Tuisk als Lew, die große und unverzichtbare Hilfe auf der Reise. Ausstattung, musikalische Begleitung und auch die gute Kamera sind weitere positive Merkmale dieses sicher inszenierten Werkes.“


Foto: © filmstarts.de

Info:

BESETZUNG

Eduard Leander      JÜRGEN PROCHNOW
Adele                       PETRA SCHMIDT-SCHALLER
Uli                            SUZANNE VON BORSODY
Lew                         TAMBET TUISK
Boris                       ARTJOM GILZ
Nastja                     MARIA KOCHUR
Nikolai                    JEVGENI SITOCHIN
Masha                    NATALIA BOBYLEVA
Ustinja                    NINA ANTONOVA
Hermann                KAI IVO BAULITZ
Eva                         KATHRIN ANGERER
Marcus                   ANDREAS PATTON