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Kirsten Liese

Wiesbaden (Weltexpresso) - Schönheit und Grausamkeit liegen dicht beieinander in einem mittelalterlichen Zauberwald. Das Wasser glitzert unter den Strahlen der Sonne, eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht steht traurig am Ufer, ihr Spiegel reflektiert das Licht. Ihr Liebster wurde von einem Banditen getötet und an einen Baum gefesselt, dort hängt der Zarensohn nun mit einem Pfeil in der Brust wie der heilige San Sebastian, bestaunt von Pilzen in menschlicher Gestalt. Was für ein Schicksal trifft nun seine schöne Braut? Wird sie an dem Angreifer, der sie lüstern bedrängt, Rache nehmen, seiner Gewalt unterliegen und entehrt an Selbstmord denken oder sich ihm freiwillig hingeben? Eine alte Hofdame, die dieses Märchen einem Großfürsten erzählt, stellt unterschiedliche Versionen zur Disposition.

Der russische Altmeister Rustam Khamdamov ließ sich in seinem jüngsten Werk von Ryūnosuke Akutagawas Erzählung Rashomon inspirieren, die zuvor schon Akira Kurosawa in einem Meisterwerk filmisch umsetzte. Meshok Bez Dna (Der unerschöpfliche Beutel) ist ein fantasiereicher, geheimnisvoller, ausgesprochen poetischer Schwarzweißfilm, der mit seiner surrealen Bildsprache an Regiegrößen wie Jean Cocteau und Andrej Tarkowski erinnert, und nicht zuletzt auch dank der passenden Untermalung mit elegischen Kompositionen Edward Elgars große Filmkunst bietet. Exemplarisch unterstreicht er den auffallend hohen Anspruch, der den 18. Wettbewerbsjahrgang in Wiesbaden prägte.

Gerade vor dem Hintergrund enttäuscht es allerdings, dass mit November ausgerechnet der Beitrag die Goldene Lilie für den besten Film gewann, der aus dem hohen Gesamtniveau herausfiel. Dabei hat sich der Estländer Rainer Sarnet alle Mühe gegeben, seinen Film, den er ebenfalls in Schwarzweiß inszeniert- und mit surrealen Elementen anreichert, kunstvoll aussehen zu lassen. Aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass seine Geschichte um Menschen - die, geplagt von Hunger, Kälte und Seuchen, ihre Seelen verkaufen - eine geistlose ist, in der Teufelsgestalten, Hexen, Werwölfe und andere übernatürliche Wesen wenig Spannung aufbauen.

Die ausgewählten Sozialdramen überzeugten dagegen rundum. Unaufdringlich inszenieren viele osteuropäische Filmemacher aufwühlende Geschichten, gesellschaftliche Zustände bilden nur den Hintergrund.

Am Beispiel einer gehörlosen jungen Mutter, die den Tod zweier Menschen herbeiführt, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern, offenbaren sich in dem kasachischen Drama  Sveta die verheerenden Zustände in einem Land, in dem sich nur die Abgebrühten über Wasser halten können. Regisseurin Zhanna Issabayeva vermittelt das mit einer nahezu unerträglichen Schonungslosigkeit. Mehr und mehr avanciert ihre Heldin, mit deren begründeten Sorgen man anfangs mitfühlt, zu einer widerwärtigen Hyäne. Noch nicht einmal für die kleine Tochter der Arbeitskollegin, die Sveta auf dem Gewissen hat, und nun in ein Kinderheim muss, bringt sie Mitgefühl auf, sträubt sich vielmehr noch dagegen, die Kleine übergangsweise für ein paar Tage bei sich aufzunehmen.

Nicht minder rau erscheint das gesellschaftliche Klima in Warschau, wo der Pole Andrzej Jakimowski sein Drama Pewnego Razu W Listopadzie (Es war einmal im November) verortet. Eine obdachlos gewordene Lehrerin und ihr erwachsener Sohn leiden hier unter bürokratischer Willkür und Herzlosigkeit. Das Konto, auf dem das Stipendium für den Sohn eingeht, bleibt gesperrt, in keine Notunterkunft darf die Tierfreundin ihren treuen Hund mitnehmen. Die prekäre Situation der Wohnungslosen spitzt sich lebensbedrohlich zu, als gewaltbereite Rechtsextreme Jagd auf ihren einzigen Schutzraum, eine linke Kommune, machen. Mit dokumentarischen Aufnahmen belegt der Film die Demonstrationen dieser rechtsnationalen „Patrioten“, an denen im Herbst 2016 über 60.000 Menschen teilnahmen.

Zu einem angefeindeten Einzelkämpfer wird auch ein Bergarbeiter in dem komplexen Film Rudar (Unter Tage). Mit ihm schafft die Slowenin Hanna Slak kein einfaches Plädoyer für die Menschlichkeit. In einer verlassenen Mine entdeckt der Protagonist Überreste von Zivilisten, die dort nach Ende des Zweiten Weltkriegs getötet wurden. Außer ihm will niemand diese Verbrechen aufklären, dies vor allem deshalb, weil die Täter die Gewinner- und die Opfer die Verlierer des Zweiten Weltkriegs waren.

Geschickt verbindet die Regisseurin das private Trauma ihres Helden, dem als Bosnier das Schicksal der in Srebrenica ermordeten Landsleute gewärtig ist, mit öffentlicher Verdrängung. Und das mit äußerst düsteren, unheimlichen, bedrückenden Bildern in den dunkelsten Abgründen des Stollen.

FORTSETZUNG FOLGT

Foto: 
Sveta © go-east.de