f allesSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Dezember 2019, Teil 6

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Wie kam es zu der Idee für diesen Film?

Eric Toledano: ALLES AUSSER GEWÖHNLICH ist das Ergebnis eines 20 Jahre andauernden, kontinuierlichen sozialen Engagements unsererseits. 1994 arbeiten wir als Betreuer in einem Ferienlager und ich musste eine Prüfung ablegen, die sogenannte „BAFD“, ablegen, um eine offizielle Genehmigung zur Betreuung der Minderjährigen zu erhalten. Dadurch habe ich Stéphane Benhamou kennengelernt, der 1996 den Verein „Le Silence des Justes“ (dt.: das Schweigen der Gerechten) gründete. Dieser hat sich auf die Aufnahme und Integration autistischer Kinder und Jugendlicher spezialisiert. Stéphane und ich haben uns anschließend aus den Augen verloren. Dann aber nahm er sich eines Mitglieds aus meiner Familie, das autistische Verhaltensweisen zeigte, an. Eines Tages haben Olivier und ich beschlossen, die Ferienkolonie in den Bergen, die Stéphane damals leitete, zu besuchen. Wir waren zutiefst beeindruckt von der Energie und der Menschlichkeit, die er und seine Mitarbeiter ausstrahlten. Die Chemie, die sich zwischen den jungen Pflegekräften und den jungen Menschen mit ihrem Handicap entwickelte, war total überwältigend.


Olivier Nakache: Kurze Zeit später benötigte Stéphane einen kurzen Imagefilm, mit dem er hoffte, an Sponsoren herantreten zu können. Denn es war nicht einfach für ihn, genug Unterstützer für die Arbeit seines Vereins zu finden. Wir sind also beide mit unserer kleinen Kamera nach Saint-Denis gefahren - genau an jenen Ort, an dem wir 20 Jahre später ALLES AUSSER GEWÖHNLICH gedreht haben. Dort trafen wir einen jungen Erzieher, Daoud Tatou, der sich um die jungen Autisten kümmerte. Diese erneute Begegnung mit den autistischen Kindern und ihren Betreuern hat sich tief in uns eingebrannt.


E.T.: Wir fanden das Umfeld, in dem Stéphane arbeitete, sehr spannend und überlegten, ob sich seine Geschichte nicht verfilmen ließe. Aber wir waren damals Anfänger im Filmbusiness und ich muss ganz offen eingestehen, dass wir damals nicht über die Mittel verfügten, um ein derart komplexes Thema filmisch umzusetzen. Das hat uns aber nicht daran gehindert, mit Stéphane und Daoud Tatou in Verbindung zu bleiben und eine Freundschaft zu ihnen aufzubauen. Vor vier Jahren schlug uns Canal+ vor, einen 26-minütigen Film über ein Thema unserer Wahl zu machen. Wir beschlossen, einen Dokumentarfilm über die Arbeit von Stéphane und Daoud mit dem Titel MAN MÜSSTE EINEN SPIELFILM DARAUS MACHEN zu drehen.


O.N.: Daoud hatte mittlerweile die Leitung des Vereins „Le Relais IDF“ übernommen. Diese Organisation kümmert sich um junge Autisten, bemüht sich aber gleichermaßen um die soziale und berufliche Wiedereingliederung junger Menschen aus Brennpunkt-Vierteln. Tatsächlich haben wir die Idee eines Spielfilms über Stéphane und Daoud in den vergangenen Jahren nie verworfen. Der jahrelange Kontakt zu den beiden hat unsere Sensibilität für die Situation für Menschen mit Handicap geschärft und zum Entstehen eines Films, den wir in einer Reihe mit ZIEMLICH BESTE FREUNDE sehen, beigetragen. ALLES AUSSER GEWÖHNLICH ist wahrscheinlich die Summe aller Themen, die man aus unseren anderen Filmen kennt: Die Beobachtung einer Gruppe bei der Arbeit wie in HILFE, FERIEN, die Bedeutung von sozialem Engagement für die Gesellschaft wie in HEUTE BIN ICH SAMBA und die Entwicklung einer Beziehung zwischen zwei Menschen wie in ZIEMLICH BESTE FREUNDE und ZWEI UNGLEICHE FREUNDE.


E.T.: Unsere Filme erzählen immer von wenig wahrscheinlichen Begegnungen. In dem Fall hat das aber eine besondere Dimension: Wie gelingt es Menschen, die nicht oder wenig kommunizieren und als außerhalb der Norm stehend betrachtet werden, andere Menschen zum Kommunizieren zu bringen, die als „normal“ betrachtet werden, aber ihrerseits nicht mehr kommunizieren? Der von Stéphane Benhamou gegründete Verein und seine einzelnen Divisionen ist ein Schmelztiegel aus Kulturen, Religionen, Identitäten und Werdegängen, die nicht immer geradlinig sind. Von dieser Art der Gemeinschaft sollte sich manch einer inspirieren lassen.


Wie sind Sie ab dem Augenblick, als Sie beschlossen, Ihren Spielfilm tatsächlich zu drehen, weiter vorgegangen?

E.T.: Zwei Jahre lang haben wir die Arbeit der beiden Vereine „Le Silence des Justes“ von Stéphane Benhamou und „Le Relais Île-de-France“ von Daoud Tatou, die sich seit dem Jahr 2000 um Jugendliche ab 14 Jahren mit schweren autistischen Verhaltensauffälligkeiten bemühen, intensiv begleitet und beobachtet. Die Szenen des Films – inklusive derjenigen, in der Valentin ausreißt – haben sich alle so in der Realität zugetragen. Wir haben darauf geachtet, dass wir in ALLES AUSSER GEWÖHNLICH nicht nur Verständnis für die Autisten und ihre Pflegekräfte wecken, sondern auch für die Eltern, Ärzte, Gesundheitsfunktionäre und die IGAS (Inspection Générale des Affaires Sociales, das Sozialamt). Das Gesundheitssystem in Frankreich ist extrem komplex: Es gibt zum Beispiel eine Menge unverständlicher Abkürzungen wie ARS, MDPH, IME,
USIDATU.

O.N.: Unsere Idee war es auch, beim Dreh mit echten Betreuern und Autisten zusammenzuarbeiten. Realität und Fiktion verschwimmen in ALLES AUSSER GEWÖHNLICH
immer wieder: Dadurch gelingt es, den Blick auf die inneren Konflikte unserer Figuren zu richten und ein Gespür für ihren Alltag und ihre Probleme zu entwickeln. Sie legen mit der Kamera auf der Schulter los, als wollten Sie dem Publikum die Dringlichkeit des Themas ganz nahe nahebringen ...

E.T.: Der Zuschauer soll den Beginn des Films wie eine Art Überfall erleben. Bruno und Malik, die beiden Betreuer der autistischen Kinder, sind permanent in Bewegung, da es an allen Ecken und Enden in ihrer Umgebung brennt.


O.N.: Die Mitarbeiter ihrer Organisationen sind Retter in der Not, und das rund um die Uhr. Diese Notfallbereitschaft hat ihren Sinn und wir wollten die Zuschauer von Anfang an dafür sensibilisieren. Die Musik dieser Anfangsszene erinnert übrigens an das Geräusch eines EKG. Fast zufällig bekommt man mit, dass Bruno (Vincent Cassel), die Figur, die sich an Stéphane Benhamou anlehnt, jüdisch ist. Ebenso wie man später erfährt, dass sein Alter Ego Malik (Reda Kateb), der die Rolle von Daoud Tatou spielt, Moslem ist. Sie lassen sich über diese Thema aber gar nicht weiter aus...


E.T.: Innerhalb dieser Organisationen tritt das Religiöse oder die Identität zugunsten des Menschlichen in den Hintergrund. Das hat uns von Anfang an fasziniert. Es herrscht eine Offenheit, ein Blick für den anderen, die in unserer Gesellschaft oft fehlt. Weil es nicht anders möglich ist, umgeht Bruno gewisse Regeln, indem er seinen Autisten
Wohnungen für die Nacht zur Verfügung stellt und noch nicht diplomierte Pflegekräfte in seinen Organisationen beschäftigt...


O.N.: Weil er den legalen Weg verlässt, steht er unter ständiger Beobachtung. In unserer Gesellschaft findet der Informationsfluss in Bezug auf den Umgang mit denjenigen Kindern, die Bruno betreut, an vielen Stellen nicht mehr statt. Ein Grund mehr für Bruno, zu handeln.

E.T.: Es geht in ALLES AUSSER GEWÖHNLICH vor allem darum, wie man das, was außerhalb bzw. innerhalb der Norm steht, definiert. Indem man die angebliche Norm wie Bruno und Malik immer wieder hinterfragt, definiert man sie neu. Wir leben in einer Zeit, in der ziviler Ungehorsam auf dem Vormarsch ist. Grenzüberschreitungen können chaotisch ablaufen, aber auch sehr bereichernd sein. Wir liefern mit ALLES AUSSER GEWÖHNLICH keine Antworten und haben auch keine Message, die wir dem Zuschauer mit auf den Weg geben wollen. Für uns ist es wichtig, mit einem Film Fragen aufzuwerfen.

Fortsetzung folgt in Teil 8

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Info:
ALLES AUSSER GEWÖHNLICH (Hors normes)
von Éric Toledano & Oliver Nakache, F 2019, 113 Min.
Drama / Start: 05.12.2019

Besetzung
Bruno              Vincent Cassel
Malik               Reda Kateb
Hélène, Mutter von Joseph         Hélène Vincent
Dylan, Betreuer von Valentin       Bryan Mialoundama
Menahem, jüdischer Restaurantbesitzer      Alban Ivanov
Joseph                          Benjamin Lesieur
Valentin                         Marco Locatelli
Dr. Ronssin, Ärztin        Catherine Mouchet
Kontrollbeamter der IGAS       Frédéric Pierrot
Kontrollbeamte der IGAS        Suliane Brahim de la Comédie française
Ludivine, Krankenschwester           Lyna Khoudri
Shirel, Betreuerin                             Aloïse Sauvage