202111384 1Zum Start des ersten Teils der 71. Berliner Filmfestspiele

Hanswerner Kruse

Berlin (weltexpresso) - Es ist saukalt, die Berlinale beginnt mit einigen Wochen Verspätung, doch statt mit der Berliner S-Bahn zum Potsdamer Platz zu fahren steige ich auf den großen Dachboden der Wohngemeinschaft und mache Feuer an. Später sitze ich dann alleine im „Dachbodenkino“ vor der mächtigen Leinwand und schaue online Filme.


Ich vermisse den großen Berlinale-Palast mit den Wettbewerbsfilmen und die kleinen Kinos mit den experimentellen Filmen. Mir fehlt das Stöhnen, Lachen, Meckern oder Klatschen der Kolleginnen und Kollegen. Ich hätte so gerne die Pressekonferenzen mit der Nähe zu den Filmleuten. Die Gespräche zwischen den Aufführungen, die Hektik und die Müdigkeit, die Qual der Wahl zwischen den diversen Filmen...

Dennoch kommen sogar auf meinem Dachboden Kinogefühle auf: an einen anderen Ort gehen, in der Dunkelheit sitzen, später ins Sonnenlicht treten. Ich entdecke einen großen Vorteil, ich kann zappen. Täglich werden online etwa 30 Filme aus allen Sektionen - wie Wettbewerb, Berlinale Specials, Generation oder Perspektive Deutsches Kino - angeboten. Die kann man von 7 Uhr morgens bis 24 Uhr niemals alle sehen, aber man kann in viele hineinklicken und weiß nach einer Viertelstunde: Oh, den möchte ich weitersehen oder ach nee, schon wieder ein gut gemeinter aber langweilig erzählter Flüchtlings-, Beziehungs-, erste-Liebe- oder Politfilm.

Mein erster Eindruck, die besten Filme laufen in der Sektion Panorama und in Berlinale Specials: Tim Fehlmanns („Hell“) Endzeitdrama „Tide“, mit undeutlichen Bildern in Schlamm und Wasser. Anne Zohra Berracheds („24 Wochen“) „Die Welt wird eine andere sein“ ist eine melodramatische Liebesgeschichte zwischen einer weltoffenen Türkin und einem islamistischen Libanesen in Deutschland. Aber auch Maria Schraders Wettbewerbsfilm „Ich bin Dein Mensch“ ist durchaus großes Kino, in dem ein menschenechter Roboter speziell für eine Frau gebaut wurde.

Doch der sogenannte Wettbewerb ist eigentlich ein Witz: Kümmerliche 14 Filme, die wir Presseleute sehen dürfen (Daniel Brühls und Dominik Grafs Streifen sind nicht zur Online-Ansicht freigegeben) und die Restjury besteht nur noch aus vier ehemaligen Bärenpreisträgern*innen. Die Gold- und Silberbären sowie die anderen Preise werden am Freitag bekanntgegeben und erst im zweiten Teil der Berlinale im Juni vergeben. Dann soll durch die geöffneten Kinos wieder die Atmosphäre eines Publikumsfestivals entstehen.

Publikums- oder Pressefreundlich ist diese Schrumpfberlinale nicht. Der neue Leiter Carlo Chatrian hat Deutsch als Berlinale-Sprache völlig abgeschafft. Die Wettbewerbsfilme haben keine deutschen Untertitel mehr, seine eigenen Reden auf Englisch - etwa zur Programmvorstellung - werden nicht übersetzt. Man weiß nicht, ist er zu faul zum Deutschlernen oder will er dem erfolgreichen und charismatischen letzten Ex-Leiter der Berlinale Dieter Kosslick eins auswischen? Dessen spärliches Englisch war mehr als drollig, begeisterte aber das Publikum und die Filmleute.

Ich bin neugierig wie es heute weitergeht...

Foto:
Szene aus dem unglaublichen, bildgewaltigen  vietnamesischen Film "Vị" (Taste) in der Sektion Encounters
© E&W Films, Le Bien Pictures, Deuxième Ligne Films, Petit Film, Senator Film Produktion

Info:
Statt vieler Berichte von verschiedenen Kollegen zur der Berlinale, wie sonst, hält unser Autor Hanswerner Kruse auch unter solchen einschränkenden Bedingungen die Stellung und berichtet dankenswerterweise