Bildschirmfoto 2022 07 01 um 03.10.31Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Juni 2022, Teil 4

Redaktion

Paris (Weltexpresso) -  Wie kam es zu diesem Projekt?

Lange Zeit wollte Florence Aubenas nicht, dass ihr Buch adaptiert wird. Viele Leute interessierten sich dafür, gaben aber angesichts ihrer Zurückweisung die Idee schnell wieder auf. Juliette Binoche, die das Projekt gern umsetzen wollte, blieb hartnäckig. Eines Tages erwähnte Florence plötzlich (Und ich weiß immer noch nicht, warum?) meinen Namen und sagte, es wäre doch interessant, wenn ich bei diesem Projekt beteiligt wäre. Juliette, die mich noch nicht kannte, kontaktierte mich sofort. Kurze Zeit später trafen wir uns zu dritt und Florence sagte zu uns: „Das wird eure Sache, ich will mich nicht einmischen“ – und nach mehreren Treffen waren es nur noch Juliette und ich. Überraschenderweise wählte sie mich aus, obwohl ich eigentlich gar nicht vordergründig als Regisseur arbeite. Es ist aber ein wunderbares Gefühl, wenn etwas so von außen auf einen zukommt. Das hat mich berührt. Ich habe mich noch nie so sehr in meinem Element gefühlt, wie beim Schreiben dieses Drehbuchs.


Hat es in Ihnen den Wunsch geweckt, sich noch mehr dem Kino zu widmen?

Es war eher wie Gelegenheit macht Diebe. Die beiden Filme, bei denen ich bisher auch Regie führte, machten mir sehr viel Spaß: der Dokumentarfi lm RETOUR À KOTELNITCH und das Drama LA MOUSTACHE. Irgendwie lässt sich WIE IM ECHTEN LEBEN zwischen den beiden Genres einordnen. Zunächst lag mir das dokumentarische Material vor. Da ich den urpsürnglichen Bericht aber nicht überlagern wollte, entschied ich mich schnell für Fiktion, um auch Distanz herzustellen. Der Film enthält also sehr viele zusätzliche fi ktionale Elemente.


Wie sind Sie an das Schreiben des Drehbuchs herangegangen?

Wir schrieben das Drehbuch zusammen mit der Schauspielerin Hélène Devynck. Nach vielen Ansätzen und Verwerfungen gelangten wir zu unserem dramaturgischen Konzept: die Idee einer Freundschaft, die enger und intimer ist als die der anderen. Ich entwickelte diese besondere Freundschaft mit all ihrer Konsequenz: das Gefühl des Verrats, wenn die Protagonistin offenbart, wer sie wirklich ist.


Währenddessen greifen Sie auch in dieser sozialen Chronik die für Sie wiederkehrenden Themen Täuschung und Lüge auf, denen Sie sich seit ihrem biografi schen Roman „The Adversary“ widmen... 

Ich tendiere dazu, aus meinen Gemütslagen und Skrupeln eine große Sache zu machen. Deshalb änderte ich den Namen der Hauptfigur und betonte, dass sie Autorin und keine Journalistin ist.


Wie ging es nach dem Drehbuchentwurf weiter?

Wir begannen frühzeitig mit dem Casting, zusammen der Castingagentin Elsa Pharaon. Ich verbrachte auch sehr viel Zeit in der nordfranzösischen Hafenstadt Caen und lernte viele Menschen kennen. Wir legten schon zu Beginn fest, dass wir neben Juliette Binoche keine weiteren professionellen Schauspieler wollten. Zwei Figuren verkörpern sich tatsächlich selbst: die Fährarbeiterin Nadège und Justine, die ihre Abschiedsparty feiert. Die beiden sind so etwas wie historische Figuren in der Hafengegend Ouistreham. Ich traf mich auf Empfehlung von Florence mit Evelyne Borée, die Nadège spielt. Die beiden haben eine enge freundschaftliche Beziehung seit dem Buch. Unser erstes Treffen hatte etwas Magisches: nachdem sie eine kleine Probeaufnahme gemacht hatte, war Evelyne in 30 Sekunden klar, dass sie gerne schauspielert! Und es ist wirklich offensichtlich; sie hat diese Autorität und diese Authentizität, die sie während der Dreharbeiten beibehielt.


Können Sie uns mehr über das Casting erzählen?

Es gab unterschiedliche Vorgänge. Wir baten die Teilnehmer, zu den Filmthemen zu improvisieren oder über sich selbst zu sprechen. Nachdem das Casting abgeschlossen war, haben wir in den sechs Monaten vor dem Dreh mehrere Workshops in Caen durchgeführt, alle zwei Wochen. Es war eine Möglichkeit, sich kennenzulernen – wie bei einer Theatergruppe: Alle waren glücklich über diese Treffen, bei denen nichts auf dem Spiel stand und die mit einer kleinen Kamera gefi lmt wurden. So haben wir uns langsam den Dreharbeiten genähert.


Wann haben Sie sich für Hélène Lambert in der Rolle der Christèle entschieden?

Angesichts der Bedeutung dieser Rolle hätten Sie auch eine professionelle Schauspielerin engagieren können... Hätten wir zwei Schauspielerinnen für die Hauptrollen ausgewählt, während die anderen als Statisten mehr oder weniger im Hintergrund bleiben, wäre es eine unangenehme Erfahrung geworden. Juliette Binoche leistete einen großen Beitrag, als sie sich bereit erklärte, auf demselben Niveau wie die anderen zu spielen. Ich wusste, dass sie eine großarige Schauspielerin ist, aber ihre Bescheidenheit und Großzügigkeit haben mich verblüfft... Anfangs waren die Frauen etwas ängstlich, da Juliette ein großer französischer Star ist, aber sie hat sie schnell für sich gewonnen. Alles wurde natürlich und freundlich. Um auf Hélène zurückzukommen: sie weiß diese Wut, diese Bitterkeit auszudrücken, die sich schon in der ersten Szene äußert, die wir in der französischen Behörde Pôle Emploi drehten (französische Regierungsbehörde, die Arbeitslose registriert, ihnen bei der Arbeitssuche hilft und sie fi nanziell unterstützt). Wir improvisierten diese Szene, und sie legte viel mehr aggressive Kraft hinein als im ursprünglichen Dialog vorgesehen war. Ihre Beziehung zu Juliette ergab den Rest. Juliette navigierte die Schauspieler mindestens so sehr wie ich, nicht indem sie ihnen Anweisungen gab, sondern durch die Art und Weise, wie sie mit ihnen agierte.

Fortsetzung folgt

Foto:
©Verleih

Info:
STAB
Regie.  Emmanuel Carrère
Drehbuch.   Emmanuel Carrère & Hélène Devynck
Frei nach dem Buch „Le Quai d‘Ouistreham“
von Florence Aubenas
Kamera.    Patrick Blossier, AFC

DARSTELLER
Marianne   Juliette Binoche
Christèle   Hélène Lambert
Marilou.    Léa Carne
Justine.    Emily Madeleine
Michèle.  Patricia Prieur
Nadège.   Evelyne Porée
Cédric.     Didier Pupin

Abdruck aus dem Presseheft