gains2Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Januar 2023, Teil 7

Claire Vassé

Paris (Weltexpresso) – Nach “Mein Leben mit Amanda“, der ja ganz im Heute spielt, tauchen Sie mit „Passagiere der Nacht“ tief ein in die 1980er Jahre.
Im Mittelpunkt meines Films steht die Auseinandersetzung mit der Geschichte dieses Jahrzehnts. Das waren meine Kindheitsjahre. Es heißt ja, dass man immer so sehr ein Produkt seiner Kindheit ist, wie das seines Lan-des. Und ich hatte Lust, in diese Zeit meines Lebens einzutauchen und all die Sehenswürdigkeiten und Geräusche wieder aufleben lassen. Die Eindrücke und Farben dieser Zeit haben mich geprägt. Ich trage sie in mir.


Auch wenn Sie damals jünger waren als die Figuren in Ihrem Film…

Ja, ich war noch ein Kind, aber ich habe immer davon geträumt, ein Teenager oder ein junger Erwachsener in den 80ern zu sein und diese Stimmung zu erleben, in der die Kunst eine so zentrale Rolle spielte, besonders die Musik. Ich bedauere, dass ich diese Atmosphäre nicht in wirklich erleben konnte, ihr nur in den Endzügen begegnet bin. Die Dreharbeiten zu diesem Film ermöglichten es mir, diese Zeit zu erkunden. Darüber hinaus wollte ich auch mit einem anderen Zeitgefühl arbeiten. Meine Filme folgen normalerweise einer sehr klar umrissenen Zeitlinie. „Passagiere der Nacht“ sollte einen epischen Charakter bekommen. Vom Ton her geht es um einen Ausschnitt des Lebens, aber die Geschichte entfaltet sich über sieben Jahre.


Im Mittelpunkt steht Elisabeth, die einen Sohn auf dem Gymnasium und eine Tochter auf der Universität hat, und die gerade von ihrem Mann verlassen wurde.

Als ihr Mann sie verlässt, verliert Elisabeth ihre emotionalen und materiellen Ankerpunkte. Sie lebt weiterhin in der ehemals gemeinsamen Wohnung, muss aber eine neue Realität konfrontieren. Es ist keine Notlage, aber eine große Herausforderung, allein zurechtzukommen, zwei Jobs zu haben, einen davon nachts.

Ich war schon immer fasziniert und bewegt von Menschen, die scheinbar einen vorgezeichneten Weg haben und es dann, wenn sie gegen eine Wand laufen, schaffen, sich neu zu erfinden. Es scheint, als erfordere diese Emanzipation eine ungewöhnliche Kraft, Großzügigkeit und Unabhängigkeit.


Elisabeth ist aber auch keine Superheldin.

Wir erfahren wenig über die Vergangenheit der Familie oder das Eheleben, aber ich denke, es ist ziemlich offensichtlich, dass Elisabeth keinen großen Drang hat aufzubegehren. Ich wollte eine Figur darstellen, die sich dem üblichen Schubladendenken entzieht. Menschen haben im Leben selten eine einzige Facette. Elisabeth ist ebenso verletzlich wie entschlossen und solide, ebenso klar wie naiv. Mir war wichtig, dass ihre Mutterschaft und ihr Verhältnis zu Arbeit, Liebe und Politik nicht wie ein Manifest wirkt, sondern sich aus den alltäglichen und realen Aspekten ihres Lebens entwickeln.


Der Film beginnt mit einem bedeutenden historischen Ereignis: Der Wahl von François Mitterrand zum Staatspräsidenten am 10. Mai 1981

Es war ein eindrucksvolles Bild, ein wegweisender Moment für eine ganze Generation, aber es bleibt offen, wie Elisabeth das Ereignis erlebt hat. Ich glaube, das Fehlen politischer Botschaften stammt aus meiner Kindheit. Ich war in dieser berühmten Nacht sechs Jahre alt und konnte spüren, dass etwas Wichtiges passiert war, das meine Eltern glücklich machte, denn sie waren eher links eingestellt.

Aber es war alles sehr vage. Meine Eltern sind nie in eine Partei eingetreten. Ihr politischer Aktivismus durchzog vor allem ihr tägliches Leben, ihre Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen. Ich glaube, das hat mein Verhältnis zur Politik geprägt, und damit auch das von Elisabeth. Gibt es einen besseren Aktivismus als die Liebe, die sie ihren beiden Kindern entgegenbringt, die Art und Weise, wie sie Talulah aufnimmt und wie sie sich Liebe und soziale Bindungen vorstellt?


Wie haben Sie das Gefühl der 1980er Jahre entstehen lassen?

Egal wie genau und umfassend man ist, die möglichst getreue Rekonstruktion einer Epoche reicht nicht aus, um das Gefühl einer Zeit einzufangen. Ich wollte nicht einfach eine Liste abhaken. Unser Ansatz war eher sensorisch. Natürlich hängt viel von den Kulissen und der Ausstattung, den Kostümen und der Musik ab. Einige Szenen erforderten erhebliche Mittel: etwa die Wahlnacht und die Wohnung der Familie, die im Studio gebaut wurde. Andere Szenen verorten sich natürlich in die 1980er Jahre - die nächtliche Radiosendung zum Beispiel. Und dann ist da noch das Archivmaterial, das im Film verwoben ist und dem restlichen Film Realität verleiht, wie eine Einladung zu einer Zeitreise.


Wie wurde das Archivmaterial ausgewählt?

Es handelt sich um zufälliges Filmmaterial, mit Ausnahme der Aufnahmen von Rivette in der Metro, die aus Claire Denis‘ Dokumentarfilm „Jacque Rivette, le veilleu“ stammt. Mein Cutter kam auf die Idee, diese Szene zu verwenden, aber ich glaube nicht, dass viele Leute sie wiedererkennen werden. Das Wichtigste ist der U-Bahn Waggon mit all seinen anonymen Fahrgästen, mehr „Passagiere der Nacht“.


Selbst die Kamera scheint mit den Tönen der achtziger Jahre zu arbeiten.

Bevor wir mit den Dreharbeiten begannen, arbeiteten mein Kameramann Sébastien Bachman und ich sehr genau an der Festlegung der formalen Identität des Films. Ich hatte schon früh das Gefühl, dass die Körnung des Films ein wesentlicher Bestandteil des Films sein wird. 

Das mentale Bild, das wir von den 80ern haben, ist in meinen Augen mit einem bestimmten Ton verbunden. Den habe ich versucht einzufangen, indem ich das Bild weicher gemacht habe; vor allem durch den Einsatz von Filtern und einer reduzierten Auflösung der Kamera.

Das Wichtigste war, die verschiedenen Formate des Films harmonisch zusammenzubringen, so dass sie miteinander kommunizieren und die Tonalität des Films bestimmen. Mir gefiel die Idee, dass die Bilder sich gegenseitig entzünden. Das Publikum sieht vielleicht die Übergänge, wenn der Film zwischen den Formaten wechselt, aber ich hoffe vor allem, dass es vom Fluss des Films mitgerissen wird und die verschiedenen Formate sich so miteinander verbinden, dass sie ein Gefühl für diese bestimmte Zeit vermitteln.


Diese interagierenden Bilder zeugen auch von der fehlenden Sehnsucht nach dem, was vergangen ist. Stattdessen feiern sie die Dinge, die noch da sind.


Genau. Es geht darum, die Vergangenheit im Licht der Gegenwart zu betrachten, denn die ist von ihr ja immer durchdrungen. Es ist meine Art, Frieden in der Frage nach Tod und Trauer zu finden. Das ist ein weiterer Grund, warum ich Filme mache: um den Anschein von Ewigkeit zu erwecken.


Auch die Musik spielt eine wichtige Rolle, um das Gefühl dieser Epoche einzufangen.

Ich wandte mich an Anton Sanko, mit dem ich schon bei „Mein Leben mit Amanda“ zusammengearbeitet hatte. Dieses Mal bat ich ihn um einen anderen Sound, mehr elektronisch mit Synthesizern, um an die Musik der Achtziger zu erinnern. Es gab auch den Wunsch nach Themen und Melodien, aber auch die Vermischung mit mehr klassischen Instrumenten, um etwas Zeitloseres zu schaffen. Wie bei der Kameraarbeit haben wir auch hier versucht, dem Film seine eigene Stimmlage zu geben. Was die Songs auf dem Soundtrack angeht, gab es eine Menge persönlicher Entscheidungen. Wie ich schon sagte, dreht sich meine Beziehung zu dieser Zeit hauptsächlich um die Musik.


Der Stammsitz von Radio France, La Maison de la Radio, ist allgegenwärtig, mit der nächtlichen Radiosendung, für die Elisabeth arbeitet.

Meine Inspiration dazu kam von einer Sendung des Radiosenders France Inter, die ich damals nicht hören konnte, weil ich zu klein war: „Les choses de la nuit“ von Jean-Charles Aschero, die fast die ganze Nacht lief. In dieser Sendung gab es die Rubrik „What’s your name?“; in der Menschen über ihr Leben erzählten, nachdem sie versprochen hatten, die Wahrheit zu sagen. Das Einzige, worüber gelogen werden durfte, war der Name. Der Moderator konnte die Person nicht sehen, die zwar im Studio war, aber hinter einem Wandschirm saß. Es gibt Clips auf YouTube, die die schwungvolle Sprache, die Musikalität und den Ton der Epoche zeigen. Das hat mich sehr inspiriert, als ich die junge Aussteigerin Talulah schrieb.

Diese Stimmen in der Nacht waren der Schlüssel zu einem Geheimnis. Sie waren eine Brücke zwischen den Menschen, ein beschwörendes, ungreifbares Band. Für meine Generation waren diese Stimmen von Bedeutung, und ich wollte, dass sie dem Film Farbe geben. Mir gefällt die Idee, dass jemand alles als Stimme in der Nacht offenbart. Es gibt heute nicht mehr viele solcher Programme, und ihr Einfluss war schon damals am Schwinden. Im Film sagt Vanda zu Elisabeth: „Das Radio hat
kein Monopol mehr auf die Nacht.“ Für die Rolle der Moderatorin der Sendung war Emmanuelle Béart, mit ihrer unglaublichen Stimme, die perfekte Wahl.


Sich im Verborgenen offenbaren. Diese Idee findet sich in all Ihren Filmen wieder, mit zurückhaltenden Figuren, die erst sprechen, wenn sie wirklich etwas zu sagen haben. Ob es Mathias ist, der Talulah seine Liebe gesteht oder Elisabeth, die ihrer Tochter Judith erzählt, dass sie sich verlassen fühlt, seit Judith das Haus verlassen hat.

Meine Filme spiegeln meine eigenen Empfindungen. Ich bin ziemlich schüchtern, aber ich treffe und interagiere auch gerne mit anderen. Irgendwann muss man Dinge loslassen, und ich möchte, dass meine Filme davon erzählen; dass sie zeigen, wie nach Umwegen und Zurückhaltung, Dinge zwischen Menschen passieren können.

Das große Problem ist, die richtigen Momente dafür zu finden; die Bekenntnisse der Figuren als Entwicklungspunkte in ihren jeweiligen Geschichten zu etablieren und den Rhythmus des Lebens in die Szenen zu bringen, aus der schließlich die Melodie des Films entsteht.


Elisabeth und ihr Sohn Mathias durchlaufen ähnliche Erfahrungen: Sie entdecken die Liebe (wieder) und teilen eine Leidenschaft für das Schreiben. Auch ihre Liebesszenen scheinen sich zu spiegeln.

Die Resonanz zwischen diesen beiden Szenen war nicht bewusst geplant, aber sie sprang mir beim Schneiden ins Auge. „Die Passagiere der Nacht“ ist ein Film mit zwei Köpfen, eine sentimentale Erziehung in zwei Lebensabschnitten.


Ein Drama oder Konflikt wird bei Ihnen niemals aufgeblasen.

Meiner Meinung nach passiert in dieser Geschichte eine Menge: eine Trennung, eine aufkeimende Liebesgeschichte, Kinder, die erwachsen werden. Das sind alles wichtige Ereignisse im Leben, echte dramatische Veränderungen. Man kann aber auch sagen, dass ich Abschweifungen und Umwege mag, weil das Leben auch aus solchen besteht. Meine Filme sind nicht konfliktlastig, denn das sind keine Geschichten, die ich erzählen will. Auch das entspricht wahrscheinlich meinen persönlichen
Erfahrungen. Konflikte bestimmen nicht mein Leben, meine Arbeit oder meine Beziehung zu anderen. Sie sind keine Energiequelle für mich, sondern törnen mich eher ab.

In diesem Film lieben sich meine Figuren, sie helfen sich gegenseitig, passen aufeinander auf. Ich mag dieses Wohlwollen und die Großzügigkeit, die, zumindest in meinen Augen, der Stoff ist, aus dem Filmheld*innen gemacht sind. 


Das macht Ihre Filme aber keineswegs beschaulich.

Nein, trotz der Abwesenheit von Konflikten will ich die Geschichte mit einer Tonalität und einem Rhythmus erzählen, die den Film eindrucksvoll und fesselnd machen. Ich will meine Sicht des Lebens widerspiegeln; will von Ereignissen erzählen, die trivial oder alltäglich erscheinen, und sie mit einer Melodie, mit Poesie und mit Anmut ausstatten – eine Art überhöhter Realität. Ich möchte Filme über die vermeintlichen Leerphasen des Lebens machen, den „Engpässen“, wie Truffaut sie nannte. Ich möchte nicht, dass ein Film von seinem Thema vereinnahmt wird - ich will, dass das Leben immer Thema des Films bleibt und der Film nicht Geisel seines Themas wird.


Das Gefühl für das gewöhnliche Leben scheint auch daher zu kommen, dass Sie seine Zerbrechlichkeit anerkennen.

Die Zerbrechlichkeit des Lebens im Allgemeinen und des Menschen im Besonderen. Ja, das ist die Beziehung zur Welt, die ich zu vermitteln versuche, wie in dem Lied von Anne Sylvestre „Les gens qui doutent“. Meine Figuren haben alle eine zerbrechliche Facette, die ich in ihrer Schönheit zeigen will, damit sich die Menschen an dem Ort ihrer eigenen Einsamkeit verstanden fühlen. Das ist es, was ich selbst genieße, wenn ich mir einen Film anschaue. So wird das Leben ein wenig weicher.


Wie war die Zusammenarbeit mit Charlotte Gainsbourg?

Wie bei Vincent Lacoste in „Mein Leben mit Amanda“ fühlte ich mich in erster Linie von dem angezogen, was Charlotte im wirklichen Leben ausstrahlt, und ich war überwältigt von ihrer Fähigkeit, die Figur zu verkörpern. Elisabeths Leben ist in vielerlei Hinsicht weit entfernt von Charlottes Leben und von dem, wie sie ist, aber sie fand Resonanzpunkte: die Bindung an die Familie und die Kinder, eine Art von Schüchternheit.

Charlottes Intuition, Intelligenz, Sensibilität und Feinsinnigkeit sind bemerkenswert. Sie fand die Tonlage der Figur gleich am ersten Drehtag, als wir eine Szene in der Bibliothek drehten, in der Elisabeth Bücher verleiht, diese registriert und so weiter. Als ich sah, wie schön und anmutig Charlotte diese alltägliche Szene gestaltete, spürte ich, dass sich neue Perspektiven für den Film eröffneten. Bei Charlotte ist immer alles von komplexen, ambivalenten Gefühlen geleitet.


Nach dem 11. und 12. Pariser Arrondissement in „Mein Leben mit Amanda“ befinden wir uns nun in den Hochhäusern des 15. Arrondissements.


Ich wollte die Erkundung von Paris mit dem Stadtviertel Beaugrenelle fortsetzen, das in den 1970er Jahren aus dem Boden gestampft wurde. Seine Türme und Plätze haben mich schon immer fasziniert, mit der Seine, den vielen Wohnstraßen und „La Maison de la Radio“ auf der anderen Seite des Flusses. Es ist für mich eine sehr berührende und filmische Landschaft, weil sie auch die Verbindung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Ortsräumen ist.


In der Szene, in der Elisabeth, Mathias und Judith zu einem Lied von Joe Dassin tanzen, sind sie auch eine Familie, die einer „Außenseiterin“ die Hand reichen. Dieser Moment scheint mir symbolisch für Ihr Kino.

Genau darum ging es in der Szene: wie sich der Familienkreis plötzlich um eine junge Frau erweitert, die sich noch nie zu Hause gefühlt hat. „Et si tu n‘existais pas“ ist ein großartiges Lied, sowohl seltsam als auch populär, im edelsten Sinne des Wortes. Es ist ein Lied, mit dem sich jede*r identifizieren kann, und man kann es sich gut als ein besonderes Lied für eine Familie vorstellen.

Foto:
©Verleih

Info:
Stab

Regie           Mikhaël Hers
Drehbuch    Mikhaël Hers, Maud Ameline, Mariette Désert

Darsteller
Élisabeth     Charlotte Gainsbourg
Mathias       Quito Rayon-Richter
Talulah        Noée Abita
Judith         Megan Northam
Hugo          Thibault Vinçon

Abdruck aus dem Presseheft