nacht desSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 12. Januar 2023, Teil 10

Redaktion

Berlin  (Weltexpresso) – Der Film ist eine Verfilmung des Buchs „18.3 – Une Année à la PJ“ (18.3 – Ein Jahr bei der Kripo) von Pauline Guéna.

Ja, es ist eine etwas ungewöhnliche Buchverfilmung, da der Film auf nur etwa vierzig der über fünfhundert Seiten beruht. Pauline Guéna hat ein Jahr in den verschiedenen Abteilungen der Kripo von Versailles verbracht. Sie berichtet über einen Alltag, der aus Routine und strapaziösen Situationen besteht. Wie David Simon in „Homicide“ hat auch sie einen zugleich dokumentarischen und unglaublich fiktionalen Blickwinkel. Man taucht ein in eine Ansammlung menschlicher Dramen, die einen guten Eindruck vermitteln von der Welt, in der wir leben.

 

Sie haben sich auf einen Fall konzentriert: den Mord an einer jungen Frau, die nachts auf dem Heimweg verbrannt worden ist.

Pauline Guéna berichtet, wie dieser Fall einem der Ermittler besonders nahegeht. Diese fast intime Beziehung zu einem Verbrechen ist genau das, was mich interessiert hat. Die Geschichte ließ mich nicht mehr los, so wie der Tod der jungen Frau auch Yohan nicht loslässt. In dem Buch steht, dass jeder Ermittler eines Tages auf ein Verbrechen trifft, dass mehr schmerzt als die anderen, das es aus einem unerklärlichen Grund wie ein Splitter steckenbleibt, sodass die Wunde sich immer wieder infiziert. An dem Material gefiel mir, dass es nicht darum ging, den Namen des Mörders zu finden, sondern die Besessenheit und die zunehmende Unruhe eines gewissenhaften Ermittlers angesichts eines ungelösten Falls zu zeigen.


Der Film beginnt mit dem Hinweis, dass in Frankreich 20% aller Morde unaufgeklärt bleiben und dass der Film von einem dieser unaufgeklärten Fälle erzählt.

Gleich zu Beginn der Arbeit am Drehbuch mit Gilles Marchand haben wir gespürt, dass ein ungelöster Fall etwas Besonderes an sich hat. Gilles hatte gerade für Netflix die Dokumentarserie über den Fall Gregory gedreht, den wohl bekanntesten ungelösten französischen Kriminalfall. Weil immer noch niemand die Wahrheit kennt, wirft der Fall viel tiefgängigere Fragen auf und wird dadurch noch spannender. Normalerweise beginnt ein Krimi mit einem Mord und endet mit der Entlarvung des Täters: Der Fall ist gelöst, es bleiben keine Fragen offen. Ich wollte es anders machen. Was mich an dieser Geschichte faszinierte, war das Rätsel, das immer unergründlicher wird, je länger die Ermittlungen andauern. Wenn man den Namen des Täters nicht kennt, kann man den Blick woanders hin richten. Man identifiziert sich mehr mit den Ermittlern, die sich vortasten und bei jedem Verdächtigen hoffen, den Täter zu finden. Man kann ihre Zweifel nachvollziehen und spürt ihre zunehmende Verunsicherung. Das Rätsel enthüllt die institutionelle
und menschliche Funktionsweise weitaus mehr als die Aufklärung.


Der Film verfolgt die polizeilichen Ermittlungen ganz konkret, wirft dabei aber nahezu existenzielle Fragen und Sorgen auf, vor allem bezüglich der Gewalt von Männern gegenüber Frauen.

Die Beziehung zwischen Männern und Frauen steht im Mittelpunkt des Films. Sie ist der rote Faden. Im Buch wird diese Problematik nicht besonders hervorgehoben, aber da Pauline Guéna eine Frau ist und die Männer der Kripo mit ihrem weiblichen Blick betrachtet, wurden wir bei unserer Arbeit sicher entsprechend geleitet. Zahlreiche Delikte sind Fälle von männlicher Gewalt gegenüber Frauen. Es ist völlig verrückt, wenn man darüber nachdenkt und diese Tatsache nicht als Fatalität abtut. Die Kriminalpolizei, die diese Gewalt bekämpfen soll, ist fast ausschließlich männlich. Selbst wenn in vielen Filmen und Serien auf lobenswerte Weise immer mehr Ermittlerinnen gezeigt werden, ist es in Wirklichkeit bisher nach wie vor eine Männerwelt. Was geht im Kopf dieser Männer vor, die Verbrechen an Frauen untersuchen, die ihre Töchter, Lebensgefährtinnen, Freundinnen oder Schwestern sein könnten? Wie betrachten sie die Verdächtigen? Und die Opfer? Was bewegt das in ihnen? Wir wollten, dass der Zuschauer diese Problematik im Film spürt und auch diese „existenziellen Fragen“, wie Sie sagen.


Die weiblichen Figuren sind sehr stark. Ihre Szenen sind fast alle tief bewegend und entscheidend für den weiteren Verlauf.


Selbst wenn die meisten Figuren – Ermittler sowie Verdächtige – männlich sind, spielen die Frauen eine zentrale Rolle. Als Erste natürlich Clara, das Opfer, das von Anfang bis Ende präsent bleibt. Dann haben wir Nanie, Claras beste Freundin, die bei ihrem dritten Verhör Yohan die Stirn bietet und den Film in eine andere Dimension führt. 


Das ist eine entscheidende Szene. 

Nanie öffnet uns und Yohan die Augen. Sie verschont ihn nicht. Warum muss er unbedingt wissen, ob Clara mit dem oder dem geschlafen hat? Was ändert das? Will er unterstellen, sie hätte ihren Tod selbst verschuldet? Nach diesem Gespräch ist Yohan sichtbar ergriffen. Für ihn und den Film ist diese Szene ein Wendepunkt.


Yohans Bewusstwerdung wird durch zwei weitere weibliche Figuren vertieft: die Untersuchungsrichterin und die junge Ermittlerin Nadia.

Diese beiden Figuren treten im letzten Teil des Films auf, nach einem Zeitsprung von fast drei Jahren. Eine neue Untersuchungsrichterin beauftragt Yohan, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Der Austausch über das, „was zwischen Männern und Frauen nicht stimmt“, ist auch wieder ein entscheidender Punkt im Film. Und Nadia, die neue Kollegin, gibt Yohan wieder Energie und Hoffnung. Sie hinterfragt eine Welt, in der Männer Verbrechen begehen, und Männer versuchen, die Verbrechen zu lösen: „Eine Männerwelt…“ Ihre Feststellung wirkt zugleich belustigt und wohlwollend, ist aber auch unerbittlich.


Bastien Bouillon spielt die Hauptrolle, Yohan.

In meinem vorherigen Film DIE VERSCHWUNDENE (2019) hatte Bastien einen naiven, freundlichen Gendarmen gespielt. Beim Schreiben von IN DER NACHT DES 12. habe ich
zunächst nicht an ihn gedacht. Gilles und ich vermeiden es, uns bei der Arbeit am Drehbuch auf spezielle Schauspieler festzulegen. Aber als das Buch fertig war und wir überlegten, welche Darsteller für Yohan in Frage kämen, fiel Bastiens Name. Bei den Tests hat er uns sofort überzeugt. Seine Präsenz, die Mischung aus Sanftheit und Melancholie, seine Empfindsamkeit, sein Blick, sein Tonfall. Die Rolle schien wie für ihn gemacht. Sie ist nicht einfach. Yohan redet nicht viel, er ist das Auffangbecken dieser Geschichte und von allen, die ihn umgeben, aber man spürt jede Emotion, die ihn erfüllt und sich auf seinem Gesicht widerspiegelt.


Er und Bouli Lanners bilden ein gegensätzliches, aber sympathisches Ermittler-Duo.

Bouli Lanners schäumt über vor Großherzigkeit und Menschlichkeit. Genau das, was wir für Marceau brauchten. „Du bist halt sentimental“, sagt ein Kollege zu ihm. Das stimmt. Marceau glaubt an die Liebe und an die Macht der französischen Sprache. Er spürt, dass sein Beruf ihn gehässig macht und leidet darunter.


Wie haben Sie die Darsteller für die Ermittlungsgruppe ausgewählt?

Ich wollte neue Gesichter. Unsere Casting Directors, Agathe Hassenforder und Fanny de Donceel, haben für die Rollen der Ermittler nahezu zweihundert Schauspieler vorsprechen lassen. Wichtig war, wie sie in der Gruppe funktionierten. Darum haben wir die für uns interessantesten Schauspieler nochmals zu dritt oder zu viert vorsprechen lassen. Als ich eine Woche bei der Kripo von Grenoble verbracht habe, wurde mir klar, wie entscheidend der Gruppengeist ist. Für die Ermittler ist die Gruppe wie eine zweite Familie. Diese Dynamik wollte ich zeigen. Gleichzeitig mussten prägende Charaktere hervortreten.


Inwiefern war die Woche bei der Kripo in Grenoble wichtig?

Pauline Guénas Buch ist schon sehr ausführlich dokumentiert, aber es war mir wichtig, mit eigenen Augen eine Gruppe von Ermittlern bei der Arbeit zu sehen: die ständige und zeitaufwendige Protokollpflicht, der Mangel an Personal, das defekte Material, die Beziehungen innerhalb einer Gruppe, den Kontrast zwischen den Verhören und der Trivialität der Pausen, in denen Dampf abgelassen wird. Mit dabei zu sein hat mir ermöglicht, präzise zu sein und den Tonfall des Films genauer zu treffen. Ich wollte vermeiden, wie in vielen Krimis scheinbar spektakulär zu sein und nach künstlichen Adrenalinstößen zu suchen, was nicht der Realität entspricht. Wichtig war, näher an den Menschen dran zu sein, an dem Unbehagen und der Leidenschaft, die die Ermittler antreibt.


Wieso haben Sie als Drehort die französischen Alpen gewählt, also Grenoble und das MaurienneTal?

Die Präsenz der Berge passte gut zu der Geschichte. Wenn man unten im Tal ist, können die Berge ziemlich beklemmend sein. Sie verhindern im wahrsten Sinne des Wortes den Durchblick, genau wie bei den Ermittlungen der Kripo. Saint-Jean-de-Maurienne ist eine kleine Industriestadt. Es gibt dort eine Aluminiumfabrik, die 700 Menschen beschäftigt, und sehr unterschiedliche Wohnviertel mit langgezogenen Mietkasernen oder Einfamilienhäusern. Auf den Höhen liegen schon die Skiorte. Ich mag diese gemischte Atmosphäre. Es ist ein Mikrokosmos, zugleich einzigartig und universell. Dazu kam die Idee, dass Yohan Rad fährt, erst in einer Halle auf der Rennbahn, wo er sich, wie Marceau sagt, wie ein Hamster im Kreis dreht. Und am Ende entkommt er dem Hamsterrad und erklimmt mit neuem Elan den Bergpass Col de la Croix de Fer. Man spürt, dass er im Laufe der Geschichte ein paar Sachen gelernt hat. Es ist wie eine Horizonterweiterung.


Wie sind Sie auf die Idee mit der Radrennbahn gekommen?

Im Buch von Pauline Guéna trainiert einer der Ermittler auf einer Radrennbahn. Dieses Detail hat mich sofort gefesselt und ich wollte es im Film einsetzen. Auf der Rennbahn kann Yohan sich abreagieren. Er baut so zwar Spannungen ab, es ist aber auch ein Ort, wo er sich im Kreis dreht. Die Rennbahn in Eybens bei Grenoble, wo wir gedreht haben, ist besonders graphisch, vor allem nachts. Bastien Bouillon hat vor dem Dreh intensiv trainiert, um die steilen Kurven gut zu meistern.


Dieser graphische Aspekt ist eines der Merkmale Ihrer Regie. Sie ist von sauberen, klar gezeichneten Linien geprägt.

Der Sturm tobt in den Köpfen der Figuren. Das gilt für die Ermittler, die Verdächtigen und die Angehörigen des Opfers. Ich wollte, dass diese inneren Stürme im Kontrast stehen zu einer klaren, präzisen Regie, sowohl was die Bildauflösung als die Kamerabewegungen angeht. Nach der Motivsuche haben wir mit dem Kameramann Patrick Ghiringhelli beschlossen, kurze Brennweiten zu benutzen, um auch in den engen Büros die Umgebung zur Geltung bringen zu können. Und bei den Außenaufnahmen heben sie die Allgegenwärtigkeit der Berge hervor. Die seltenen Großaufnahmen sind besonderen Momenten vorbehalten wie zum Beispiel dem Mord. Umso stärker ist ihre Wirkung.


Die Atmosphäre des Films ist recht düster, aber am Ende spürt man einen gewissen Optimismus, der paradox wirken mag, da der Täter nie gefunden wird.

Der Film ist düster, weil ein schreckliches Verbrechen begangen wird und keine der Spuren zum Ziel führt. Doch ich wollte nicht, dass der Film in Bitterkeit oder gar Pessimismus verfällt. Ich wollte erzählen, wie sich in Yohan ein Knoten löst. Wie ihm Nanie, die Richterin und Nadia neue Kraft und eine neue Perspektive vermitteln. Es findet eine Veränderung in ihm statt, die ihm Vertrauen in die Zukunft gibt. Weiter an seine Arbeit zu glauben und seine Aufgabe unermüdlich fortzusetzen, ist der einzige Weg, den Fall eines Tages aufzuklären. Nadia und die Richterin werden ihm dabei helfen, das steht fest und beinhaltet tatsächlich Optimismus.


Die Musik von Olivier Marguerit geht ebenfalls in diese Richtung, sie ist voller Licht.

Stimmt. Ich hatte große Lust, mit Olivier zusammenzuarbeiten, nachdem ich SCHWARZER DIAMANT (2016) und ONODA – 10.000 NÄCHTE IM DSCHUNGEL (2021) von Arthur Harari gesehen habe, für die er die Musik komponiert hatte. Ich mag seinen Sinn für Melodie. Gleich nach der Lektüre des Drehbuchs hat Olivier die ersten Stücke komponiert, noch vor Beginn der Dreharbeiten. Viele dieser ersten Kompositionen sind jetzt im Film enthalten. Sie sind melancholisch und leuchtend zugleich. Er hatte die Intuition, Stimmen einzusetzen, die an die Toten erinnern, die uns heimsuchen und begleiten. Das Hauptthema zu Beginn und Schluss des Films drückt fast etwas Freudiges aus, das Bedürfnis voranzukommen, aus der Höhe ins Weite zu blicken.

Foto:
©Verleih

Info:
 Regie Dominik Moll
Drehbuch Gilles Marchand, Dominik Moll
mit Bastien Bouillon, Bouli Lanners, Pauline Serieys u.v.m.
Thriller, Frankreich 2022, 115 Minuten