Bildschirmfoto 2023 02 26 um 23.12.21Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Februar 2023, Teil 4

Redaktion 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Mutter Edith und Herrn Dussel wird im Tagebuch stellenweise als schwierig dargestellt. Sie hingegen zeichnen ein positives Bild dieser Beziehungen? Warum?

Spricht man mit Kindern über ihre Eltern, bekommt man in der Regel etwas Schlechtes zu hören – unabhängig davon, wie es tatsächlich ist. Allgemein neigen Jugendliche dazu, eine negative Haltung gegenüber ihrer direkten Umgebung und der Welt als Ganzes einzunehmen. Jugendliche wollen rebellieren. Wahrscheinlich wird diese Einstellung sogar noch verstärkt, wenn junge Menschen während ihrer Jugend gezwungen sind, zwei Jahre lang in Isolation zu leben. Möglicherweise hat Anne daher ihre Umgebung nicht ganz realitätsnah beschrieben. Genau aus diesem Grund sollten wir ihrer Mutter, die Anne fast durchgehend zu verurteilen scheint, etwas Mitgefühl entgegenbringen. Dasselbe gilt für ihren Mitbewohner. Auch wenn beide regelmäßig aneinandergeraten. In diesem Sinne habe ich diese Figuren ausgebaut.


Aber Sie sind davon überzeugt, dass das Tagebuch Kindern eine solide Grundlage für den Geschichtsunterricht bietet?


Das bin ich. Das Tagebuch ist zutiefst menschlich, liest sich recht gut, ist leicht verständlich und erklärbar. Und all die furchtbaren Erfahrungen, die Anne und Margot durchlebten, nachdem Anne gezwungen worden war, mit dem Schreiben aufzuhören, fehlen. Es gibt keinerlei Beweise von ihr, die belegen, was ihr in diesen sieben Monaten – der schlimmsten Zeit ihres Lebens – widerfahren ist. Das macht es in der Form eines schönen, intelligent und mutig geschriebenen Tagebuchs einfacher, eine allgemeine Geschichte über ein Mädchen zu erzählen, das im Krieg isoliert und unter ständiger Todesgefahr lebte. Allerdings lässt diese Geschichte die schrecklichen Schicksale derjenigen aus, die in den Ghettos verhungert sind oder derjenigen, die in den Zügen Richtung Osten deportiert wurden, um Opfer der „Endlösung“ zu werden.


Sind Sie Kittys Spur tatsächlich gefolgt?

Kitty geht den Weg, den Anne in Europa gegangen ist: Zusammen mit ihrer Familie wurde sie zunächst in einem herkömmlichen Zug, der ebenfalls ganz gewöhnliche Passagiere beförderte, Richtung Durchgangslager Westerbork verfrachtet. Anschließend ging es nach Auschwitz in Polen und von dort aus nach Bergen-Belsen. Für meine Recherche bin ich denselben Weg gegangen und heute wirkt Westerbork wie ein Park. Der Ort ist dermaßen von Natur umgeben,
dass man sich kaum vorstellen kann, was dort während des Krieges geschah. Durch meine Eltern war ich schon mehrmals in Auschwitz gewesen. Beim Besuch des KZ Bergen-Belsen fand ich, dass es mit viel Aufwand als Gedenkstätte gestaltet worden war. Viel von den ursprünglichen Strukturen ist nicht mehr übrig. Stattdessen erhalten Besucher:innen ein iPad mit einem Zeitzeugen:innenbericht eines Überlebenden, der die eigene Vorstellungskraft in Gang setzt. Leicht erweitert, habe ich diese Reise in Kittys Geschichte integriert. Es werden alle Menschen gezeigt, denen Kitty auf ihrem Weg begegnet ist. Zeitgleich erfährt das Publikum, wie die ganze Welt hinter ihr her ist, weil sie das geheime Tagebuch gestohlen hat.


Neben Ihrer künstlicheren Arbeit haben Sie also auch geforscht?


Die Arbeiten an diesem Projekt dauerten acht Jahre. Einer der Gründe hierfür war, dass wir vor dem Schreiben tiefgreifende, umfassende Recherchen zu jedem einzelnen Aspekt betreiben mussten. Hinter dem Drehbuch verbirgt sich wirklich eine Menge Wissen. Wir arbeiteten mit einem Team von Forschenden zusammen und besuchten verschiedene Archive, vor allem aber die Archive der Familie Frank, die vom Anne Frank Fonds in Basel und Frankfurt
geführt werden.


Die Arbeit am Drehbuch begannen Sie ein paar Jahre vor der Flüchtlingskrise von2015. Wie haben die damaligen Fernsehbilder Ihre Arbeit am Film beeinflusst?

Ich würde sagen, dass sich das Drehbuch parallel zum eigentlichen Alltag entwickelt hat. Ende 2013, dem Anfang meiner Arbeit, kreisten meine Gedanken nicht hauptsächlich um Geflüchtete. Vielmehr hatte ich junge Mädchen in Kriegsgebieten im Kopf, die ähnliche Erfahrungen wie die von Anne Frank durchleben mussten. Doch als 2018 und 2019 die Zuwanderung von Kriegsgeflüchteten nach Europa einen Höhepunkt erreichte, schrieb ich das Drehbuch um.
Und das, obwohl wir es bereits als Grundlage für den ersten Teil der Animation verwendet hatten. Ursprünglich ging es im zweiten Teil um Mädchen in Kriegsgebieten. Anschließend ging ich diese
Abschnitte durch und befasste mich mit Kindern, die aus Kriegsgebieten fliehen und in Europa Schutz suchen. Genau darin liegt einer der Vorteile von Animationsfilmen: Produktionen sind so zeitintensiv, dass man auch mitten im Projekt noch Änderungen vornehmen kann.


An dieser Stelle haben Sie Awa eingeführt, ein Flüchtlingsmädchen aus Afrika. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Awa ist aus Mali geflüchtet. Ich habe recherchiert, wie und über welche Routen afrikanische Geflüchtete Europa erreichen. Da der Film in Amsterdam spielt, fand ich es angemessen ein afrikanisches Mädchen in die Story einzubauen. Und die Geschichte erstreckt sich über drei Generationen, von Anne, die sich Kitty ausgedacht und ihr das Tagebuch weitergegeben hat, bis zu Kitty, die Awa findet und ihr das Tagebuch übergibt. Trotzdem möchten wir den Holocaust keinesfalls mit den Flüchtlingsströmen vergleichen, die Europa in den letzten fünf Jahren erreicht haben. Diese beiden
Ereignisse können ohnehin nicht miteinander verglichen werden. Wir möchten lediglich darauf aufmerksam machen, dass aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen inzwischen weltweit jedes 5.Kind in Lebensgefahr ist. Wir möchten dem Publikum zeigen, was es bedeutet, als Kind in einen Krieg hineingeboren zu werden, den man weder versteht noch an dem man beteiligt ist. So gesehen, weisen die Geschichten von Anne und Awa durchaus Parallelen auf.


Viele junge Menschen sind heutzutage Teil von Bewegungen, mit denen die Welt verändert werden soll. Die Jugend wird aktiv. Wie nehmen Sie das in Bezug auf den Film wahr?

In meiner Heimat Israel sehe ich, dass Aktivist:innen aus verschiedenen Generationen kommen. In der Sommerhitze und
inmitten des starken Regens, war es jedoch eben die jüngere Generation, die jedes Wochenende vor dem Haus des damaligen Ministerpräsidenten Netanyahu demonstrierte. Und schließlich gewannen sie: Die korrupte Regierung wurde durch eine neue Regierung abgelöst. Nun nach ein paar Jahren ist Netanjahu mit einer noch rechteren Regierung wieder da. Ich hoffe und bin sicher, dass diese junge Generation wieder wirksam darauf reagieren wird. Die Welt befindet sich in einem Wandel. Rassismus, Gewalt und Antisemitismus nehmen zu. Aber irgendwann erreicht man eine Einstellung, die dazu führt, dass man sich in seine eigene Komfortzone zurückzieht und dort verharrt. In den letzten Jahren hat sich Israel politisch gesehen sehr stark nach rechts bewegt. Eben dieser Rechtsruck, löste vor Corona starke Proteste aus, die hauptsächlich von jungen Menschen in ihren Zwanzigern, angeführt wurden. Dieses Engagement empfinde ich als bewegend und großartig, weil dadurch Hoffnung entstand.


Als das Projekt ins Leben gerufen wurde, hatte Antisemitismus noch nicht das Ausmaß erreicht, mit dem wir heutzutage konfrontiert sind. Kann der Film dieser Entwicklung entgegenwirken?

Holocaustleugnung ist in erster Linie unter Extremist:innen abseits der Gesellschaft zu finden. Es gilt, unsere Bemühungen stärker auf den Kern der Gesellschaft zu verlagern, um dem schleichenden Verfall dieser Geschichte Einhalt zu gebieten und diese Ereignisse als lebenswichtig darstellen und zu verdeutlichen, dass diese keineswegs verstaubte Überreste der Vergangenheit sind. Das ist viel entscheidender. Ebenso sollten Kinder nicht mit Klischees und dogmatischen Aussagen und Ängsten aufgezogen werden. Dafür sind sie viel zu clever, denn sie werden mit den Technologien, die sie heute nutzen, so schnell erwachsen. Es ist wirklich beeindruckend, wie schnell Kinder Wissen aufsaugen können. Und das sogar im Alter von 3 oder 4 Jahren, sobald sie zum ersten Mal einen Bildschirm berühren und lernen, damit umzugehen. Hierbei sollten sie auf gutes, richtiges und relevantes Wissen treffen und es verarbeiten.
Es wird nicht möglich sein, mit ihnen eine Beziehung aufzubauen, wenn wir es nicht schaffen, Geschichten zu erzählen, die zu ihrer Art, Dinge anzugehen, passen.


Ist das der Grund, weshalb Sie für den Film ein Bildungsprogramm entwickelt haben?

Ja. Zusammen mit dem Anne Frank Fonds in Basel haben wir ein tolles Bildungsprogramm entwickelt. Es gibt bereits das Graphic Diary, das im Herbst 2017 während den Arbeiten am Film veröffentlicht wurde. Seitdem wurde das Diary in 30 Sprachen übersetzt. Unter demselben Titel „Wo ist Anne Frank“ haben wir jetzt auch jeweils den Film und die Geschichte zu Kitty als Graphic Novel rausgebracht. Zusätzlich haben wir pädagogisches Begleitmaterial für Schulen, Lehrer:innen und Schüler:innen zusammengestellt, das eine Fülle von Wissensinhalten enthält und die künstlerischen Projekte ergänzt. Damit wird ein Bedarf bedient, dem wir in der heutigen Zeit begegnen, und es bietet sich die Gelegenheit, Geschichte und aktuelle Themen in die Klassenzimmer zu bringen.


Sie erwähnten das Buch, mit dem die Geschichte von Kitty erzählt wird. Dieses Buch beschäftigt sich – anders als das Graphic Diary – direkt mit dem Holocaust. Können Sie uns mehr davon berichten?

Anne Frank wird als junges Mädchen wahrgenommen, das während des Krieges eingeschlossen war. Die „Endlösung“ fehlt in ihrem Tagebuch, weil sie darin nicht darüber geschrieben hat. Aus diesem Grund wird dieses Thema in den bisherigen Filmen über Anne Frank ebenfalls nicht behandelt. Das Kitty-Buch hingegen ist eine Fortsetzung des Graphic Diary und erzählt darüber, was mit Anne passiert ist, nachdem die Familie verraten und deportiert wurde. In dem Buch geht es um die letzten sieben Monate in Annes Leben. Durch Kitty wird im Buch die Geschichte vervollständigt, die
Anne nicht zu Ende schreiben konnte.


In dem Buch lassen Sie Kitty einen Brief an Anne schreiben – die erste Antwort, die Anne jemals auf ihre eigenen Briefe erhalten hat. Wie sind Sie an diesen Teil des Buches herangegangen?

Bei der Arbeit an dem Buch war es für mich sehr wichtig, eine Verbindung zwischen beiden Seiten zu schaffen. Die Beziehung zwischen Kitty und Anne sollte keine Einbahnstraße sein. Nachdem Kitty herausgefunden hat, dass Anne verstorben ist und in Bergen-Belsen den Gedenkstein mit ihren Namen entdeckt, schreibt sie Anne einen Brief, in dem sie ihr verspricht, ihren Traum zu erfüllen, so viele Menschen, wie nur möglich, zu retten. Sie verspricht auch, sich zu
verlieben. Ein weiterer Herzenswunsch Annes. Zwischen den beiden Mädchen herrscht eine Art Freundschaftsschwur. Das war die Grundidee dahinter.