Bildschirmfoto 2023 02 26 um 23.12.35Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Februar 2023, Teil 3

Redaktion 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das Publikum setzt sich zusammen mit Kitty mit dem Holocaustauseinander. Waren diese Szenen besonders schwierig für Sie? Wie sind Sie mit ihnen umgegangen?

Die schwierigste Aufgabe im ganzen Film war es, die eine Szene umzusetzen, in der die Familie Frank im Konzentrationslager Auschwitz ankommt. Wie können wir Kindern diesen historischen Augenblick näherbringen? Das Animationsgenre eröffnet uns sehr viele Möglichkeiten. Allerdings mussten wir eine bedachte Vorauswahl treffen. Ich stieß letztendlich auf eine Menge Ähnlichkeiten zwischen den Mordstätten der Nationalsozialist:innen während des
Zweiten Weltkriegs und der Unterwelt in der griechischen Mythologie. Anne Frank war von der griechischen Mythologie fasziniert. Die Nationalsozialist:innen hatten Züge, Transportmittel, Selektionsverfahren und Tötungsanstalten. In der von Anne Frank so verehrten griechischen Mythologie gibt es zwar keine Züge, aber Fähren. Es gibt kein Land, dafür aber Flüsse. Und es gibt Selektionen, die von Hades, dem Gott der Unterwelt, vorgenommen werden. Hunde gibt
es dort auch, wie im Nationalsozialismus. Dort waren die Hunde an den Gleisen in der Nähe der Lager. Mein Gedanke war es, eine Montage zusammenzustellen, um jedem verständlich zu machen, was die Familie Frank in diesem Lager durchgemacht hat. Einerseits sollten diese Erfahrungen anhand von Bildern aus der griechischen Mythologie dargestellt werden, andererseits durch Worte, die die eigentliche Geschichte erzählen. Zugleich sollten diese Szenen nicht allzu plastisch und schwerfällig werden.


Gibt es für Sie irgendwelche Grenzen bei der Aufarbeitung des Holocausts?

Im Gegensatz zu anderen Holocaust-Filmen wollten wir das Ende von Anne und Margot nicht realistisch darstellen. Ganz gleich, ob wir mit Animationen oder in einem herkömmlichen Filmformat arbeiten: Es gibt keine richtige filmische Darstellungsform für das, was passiert ist. So richtig verstehen, was damals geschehen ist, kann meiner Meinung nach niemand. Wir können uns nicht wirklich vorstellen, was passiert ist. Ich bin in einer Familie von HolocaustÜberlebenden aufgewachsen und habe die grausamsten Geschichten, die ein Kind jemals erfährt, zu hören bekommen. Doch unser
Verstand ist nicht in der Lage, eine visuelle Verbindung zu diesen Geschichten aufzubauen und kann die Geschehnisse nicht vollständig verarbeiten. Dies ist eine Aufgabe, die uns alle überfordert. Aus diesem Grund habe ich, um die Geschichte zu erzählen, eine Allegorie entwickelt, indem ich die Mittel benutzte, die uns Animation und Zeichnung zur Verfügung stellen, um imaginäre Welten zu erschaffen.


Der Film basiert auf den im Tagebuch enthaltenen Informationen und den ausführlichen Dialogen zwischen Anne, Kitty und Margot. Wie ist es Ihnen gelungen, diese zu erarbeiten, ohne in das Format eines rein didaktisch ausgerichteten Dokumentarfilms zu verfallen?

Geistig habe ich das, was man eine interne Zensurbehörde nennen könnte. Wann immer ich in Klischees zu tappen scheine, korrigiere ich mich sofort und versuche, daraus einen Teil der Geschichte zu machen. Niemand besser als Kinder spürt das, wenn Filmemacher:innen ein Publikum erreichen wollen, aber dabei zu Lehrer:innen werden. Die entscheidenden Faktoren für eine überzeugende und sinnvolle Geschichte sind daher die Dialoge und das Format,
mit dem wir die Geschichte erzählen.


Die Geschichte des Holocausts zu erzählen, ist bereits eine äußerst anspruchsvolle Angelegenheit. Wie haben Sie die Sprache und das Medium gewählt, um Ihrem Publikum diese Geschichte nahezubringen?


Ich habe mich einfach an die Vorstellungskraft gewandt. Wenn man eine solch ernste Geschichte erzählen muss, kann man entweder mit Humor oder mit vielen Emotionen arbeiten. Beides ist machbar. Allerdings läuft man Gefahr, sein Publikum zu verlieren, wenn man es mit einer der beiden Aspekte übertreibt und die Zuschauer:innen
dazu drängt, in abgedroschene Klischees von Leid und Elend einzutauchen. Es ist wichtig, die menschliche Seite der Figuren ausgewogen darzustellen und zu vermeiden, dass die Emotionen Überhand gewinnen und man in Effekthascherei verfällt.


Sie bieten einen neuen, völlig anderen Ansatz für das Tagebuch, das beim jungen Publikum bereits hinlänglich bekannt ist. Verraten Sie uns, was genau hinter Ihrer Idee steckt?

Ein Großteil des im Tagebuch verwendeten Rohmaterials haben wir beibehalten. Die Szenen, die sich in der Vergangenheit abspielen, erzählen die Geschichte des Tagebuchs, und sogar die Zukunft nach dem Holocaust ist im Tagebuch in gewisser Weise vorweggenommen worden. Der Film erzählt die Geschichte jedoch auf eine ganz andere Weise, nämlich nicht als Monolog von Anne, sondern als Dialog zwischen den Mädchen. Die imaginäre Freundin wird für uns Zuschauer:innen real. Und beide besprechen miteinander die Dinge, die Anne als ihren Monolog niedergeschrieben hatte. Im Prinzip haben wir hier eine andere Art, dieselbe Geschichte zu erzählen.


Wie viel vom Tagebuch und wie viel Ari Folman stecken in Kitty?

Kitty hat im Film ihre eigene Persönlichkeit, die losgelöst von Anne ist. Bei Kitty handelt sich nicht um eine Erweiterung oder Wiedergeburt von Annes Charakter nach ihrem Tod. In dem Moment als Kitty das Haus verlässt und in die weite Welt geht, verfügt sie über ihre eigenen Möglichkeiten. Und das, obwohl diese Optionen von mir als Drehbuchautor vorgegeben sind

Den ersten Teil finden Sie unter
https://weltexpresso.de/index.php/kino/27805-q-a-mit-dem-regisseur-ari-folman

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