tarSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 2. März 2023, Teil 4

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) – 
Statement des Regisseurs: „Dieses Drehbuch wurde gezielt für eine Künstlerin geschrieben: Cate Blanchett. Hätte sie die Rolle nicht angenommen, wäre dieser Film niemals umgesetzt worden. Die Zuschauer, ob Laien oder nicht, werden davon kaum überrascht sein – schließlich ist sie eine absolute Meisterin ihres Fachs. Als wir den Film drehten, erlebten wir ihr unglaubliches Können und ihre Authentizität hautnah mit. Sie hat uns alle mitgerissen. Das Privileg, mit einer Künstlerin dieses Formats zusammenarbeiten zu dürfen, lässt sich nicht in Worte fassen. TÁR ist in jeder Hinsicht Cates Film.“


Auf dem Podium

TÁR beginnt mit einem Interview, das Adam Gopnik im Rahmen des „The New Yorker“- Festivals mit Lydia Tár führt und bei dem ihr beruflicher Werdegang im Mittelpunkt steht: Nach dem Abschluss in Harvard absolvierte das amerikanische Universalgenie ein Klavierstudium am Curtis Institute. Anschließend promovierte Tár an der Universität Wien im Fach Musikwissenschaft und spezialisierte sich auf die Musik des Ucayali-Tals im Osten Perus, wo sie fünf Jahre unter dem Volk der Shipibo-Konibo lebte. Als Dirigentin stieg sie schnell in die Ränge der „Big Five“ amerikanischer Orchester auf, während sie gleichzeitig komponierte und dabei alle vier großen Auszeichnungen erhielt: Emmy, Grammy, Oscar® und Tony. Ein Erfolg, der bislang nur wenigen Menschen vergönnt war.

Mit der Unterstützung des Investmentbankers und Amateurdirigenten Eliot Kaplan (Mark Strong) rief Tár das „Accordion Conducting Fellowship“-Programm ins Leben. Dessen Leitgedanke ist es, jungen Dirigentinnen Unternehmergeist und Auftrittsmöglichkeiten zu vermitteln. Nach einem Gastspiel in Berlin wurde Tár Chefdirigentin des Orchesters, eine Position, die sie seit nunmehr sieben Jahren innehat.

„Ich habe lange über eine Figur nachgedacht, die sich in ihrer Kindheit selbst das Versprechen gegeben hat, nicht zu ruhen, bis ihr Traum verwirklicht ist. Und nun hat sich dieser Traum in einen Albtraum verwandelt“, sagt Field. „Einst führte Tár ein Leben, das der Kunst gewidmet war. Jetzt leitet sie eine Institution, in der sich ihre eigenen Schwächen und Neigungen schonungslos offenbaren. Sie zwingt anderen ihre Regeln auf – nur, um sie dann selbst zu verletzen. Und sie merkt es nicht einmal. Janet Malcolm würde wohl sagen: ‚Sich seiner Schurkerei bewusst zu sein, entschuldigt sie nicht.‘“

„Wie viele andere Menschen, die Autoritätspositionen innehaben, hat Tár etwas Geheimnisvolles an sich. Das gilt erst recht in der exklusiven Welt hochrangiger deutscher Orchester“, sagt Blanchett. „Tár ist eine Frau, die sich selbst nicht wirklich kennt. Es war deshalb eine Herausforderung für mich, die Figur zum Leben zu erwecken. Ich musste Momente finden, die es dem Publikum ermöglichen, sich in sie hineinzuversetzen und eine Verbindung zu ihr aufzubauen.“

Seit vielen Jahren führt Tár eine Beziehung mit der Berliner Konzertmeisterin Sharon Goodnow (Nina Hoss). Die beiden ziehen ihre syrische Adoptivtochter Petra (Mila Bogojevic) in einem modernen Zuhause auf. Außerdem steht Tár ihrem Mentor und Vorgänger Andris

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Davis (Julian Glover) nahe, der ihr hilft, sich in den komplizierten Verhältnissen ihrer Position zurechtzufinden. Sie selbst wiederum ist Mentorin für ihre junge Assistentin Francesca Lentini (Noémie Merlant), die hofft, eines Tages selbst Karriere als Dirigentin zu machen.

„Es war eines der beeindruckendsten und intelligentesten Drehbücher, die ich je gelesen habe“, sagt Hoss, die u. a. in mehreren von der Kritik gefeierten Werken des deutschen Regisseurs Christian Petzold mitgewirkt hat. „Die Spannung bleibt bis zum Ende sehr hoch – man lernt die Figur kennen, und es gibt keinen Moment zum Durchatmen. Außerdem ist es spannend, was die Musik auf emotionaler und psychologischer Ebene mit einem macht. Ganz zu schweigen von dem Geschäft, das hinter der Welt der klassischen Musik steckt, und der Grausamkeit, die dazugehört. Todds Drehbuch schafft eine facettenreiche dramatische Atmosphäre, und gleichzeitig hat die Geschichte eine enorme Tiefe.“

Merlant fügt hinzu: „TÁR zeigt uns ein Milieu, das wir nicht oft zu Gesicht bekommen – die Welt des Orchesters und seiner Leitung. Dabei stellt der Film eine Frau als Dirigentin in den Mittelpunkt. Andere Frauen wiederum müssen sich mit dieser Lebenswelt und der Komplexität der Beziehungen zwischen den Menschen, die in ihr leben und arbeiten, auseinandersetzen. Die Geschichte ist insofern sehr modern, als sie Machtdynamiken untersucht und Fragen über deren komplizierte Natur aufwirft.“

Während sich das Orchester auf die Live-Aufnahme von Mahlers fünfter Sinfonie durch das Label Deutsche Grammophon vorbereitet – ein Höhepunkt in Társ Karriere –, zeichnen sich erste Probleme ab.

„Dirigentinnen bekommen oft Kammermusikstücke zu dirigieren, aber nicht die großen Nummern. Und das belastet sie sehr“, sagt Blanchett. „Sie ertappt sich dabei, dass sie unkluge Entscheidungen trifft, weil sie von diesen systemischen Prozessen zermürbt ist. Wenn du als Frau auf dem Podium stehst, muss ein gewisser Teil der Aufmerksamkeit auf die politische Tatsache gerichtet sein, dass eine Frau dort steht.“

In der zweiten Hälfte des Films erzählt TÁR die Geschichte einer sich verändernden Machtdynamik, als ihr Orchester – ein demokratisches Gremium, in dem die Musiker den Dirigenten wählen – beginnt, sie mit anderen Augen zu sehen. „Die Vorstellung von Demokratie und Autokratie ist in Todds Geschichte sehr präsent“, sagt Blanchett. Sie gipfelt in einer Szene, in der Lydia und ihre Tochter mit Stofftieren Orchester spielen, nachdem die Macht der Dirigentin auf dem Podium bedroht ist. „Das ist keine Demokratie“, lässt Tár das Kind wissen und offenbart damit den Konflikt, der dem Drehbuch von Field zugrunde liegt.

Dem Lärm einen Sinn geben

Wie so viele andere, so wurde auch Field durch Leonard Bernstein an klassische Musik herangeführt (Fields eigener musikalischer Hintergrund ist der Jazz). „Wenn man sich die Harvard-Vorlesungen anschaut, die Bernstein in den 1970er-Jahren gehalten hat, dann stellt man fest, dass er die ganze Heuchelei beseitigt und durch Liebe ersetzt hat“, sagt Field. „Er machte deutlich, dass klassische Musik nichts als Lärm ist: Man kann einen bestimmten Abschnitt spielen und ihn wie „Dragnet“ klingen lassen. Oder man kann den Anschlag und die Betonung ändern, sodass sich alles wie Charles Ives anhört – es macht keinen Unterschied. 

Diese Musik sollte entschärft, entmystifiziert und in öffentlichen Schulen gelehrt werden. Mahlers fünfte Sinfonie – das Stück, das Lydia dirigieren soll – ist das Werk, das wirklich alles verändert. Wenn Sie sich heute einen Filmscore anhören oder Bugs Bunny, dann hören Sie Musik, die aus diesem kanonischen Werk entstanden ist.“


Ein Prozess

Bei TÁR handelt es sich um einen Probenfilm, um einen Film, der einen Prozess darstellt. Field wollte versuchen, die Mechanismen auf und abseits der Bühne darzustellen, die diese Art der Arbeit mit sich bringt. „Eine Sorge bei der Einbindung unserer Figur in dieses Milieu war, dass die Menschen, die dort tatsächlich leben, vielleicht abwinken und sagen könnten, wir hätten es nicht richtig verstanden. Dass wir eine nicht ernstzunehmende Variante gezeigt hätten. Es war also wichtig, dass der Job des Dirigenten eine echte Rolle in der Erzählung spielt und nicht nur als Hintergrundgeschichte für etwas anderes dient. Die Lektüre von John Mauceris Büchern über das Dirigieren brachte mich auf einen guten Weg. Ich rief John an – und merkte, dass ich es mit einem wahren Experten zu tun hatte.“

Mauceri erstellte eine Kurzstudie für Field, und die beiden verbrachten viele Stunden am Telefon miteinander. „John war unglaublich freigiebig mit seinem Wissen und seiner Zeit. Sein Enthusiasmus, der dem seines Mentors Leonard Bernstein sehr ähnlich ist, ist regelrecht ansteckend.“

Jahrelang dirigierte Mauceri die „Movie Nights“ in der Hollywood Bowl und trug mit seinen ausverkauften Konzerten dazu bei, Filmmusik im Bewusstsein eines Publikums zu verankern, das sich sonst eher für klassische Musik begeistert. „John hat einen für einen Dirigenten ungewöhnlichen Hintergrund“, erklärt Field. „Er versteht den Mechanismus von Filmen. Wir fanden sofort einen Draht zueinander. Ich konnte ihm Ideen für die Handlung vorlegen, um sie auf ihre Plausibilität zu prüfen. Die Zeit, die ich mit ihm verbrachte, hat mich auch darauf vorbereitet, den Musikfachleuten in Deutschland auf Augenhöhe zu begegnen, die mitunter recht pedantisch sein können und das, was sie verkaufen, – nämlich Schönheit und Seriosität – mit beinahe religiösem Eifer schützen.“

„Da drüben läuft es anders“

Um ein Gefühl der Authentizität zu schaffen, interviewte Field eine Reihe deutscher Orchestermusiker, darunter die erste Bratschistin in der Geschichte der Münchner Philharmoniker. „Sie berichtete von den Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert war. Dinge, mit denen sich ihre männlichen Kollegen in einer Million Jahren nicht hätten auseinandersetzen müssen. Die deutsch-österreichische Welt der klassischen Musik wirkt immer noch sehr aus der Zeit gefallen. Schauen Sie sich nur die Top-Orchester an. Bis heute hat kein einziges von ihnen eine weibliche Chefdirigentin ernannt. Das allein macht unseren Film schon zu einem Märchen.“


Foto:
©Verleih
 

Info:
Tár, USA, 2022
Regie: Todd Field
Drehbuch: Todd Field
Besetzung: Cate Blanchett, Nina Hoss, Mila Bogojevic, Noémie Merlant u.a.
158 Minuten