fabel1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 9. März 2023, Teil 2

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Nachdem er West Side Story fertiggestellt hatte, verspürte Spielberg eine tiefe, dringende Motivation, die Produktion von DIE FABELMANS voranzutreiben. Sein Vater, Arnold Spielberg, starb im August 2020 nach monatelangen gesundheitlichen Problemen. Seine Mutter, Leah Adler, war bereits vier Jahre zuvor verstorben. Und dann war da auch noch die COVID-19-Pandemie. „Ich glaube nicht, dass 2020 irgendjemand wusste, wie das Leben in einem Jahr aussehen würde“, sagt Spielberg. „Als sich die Dinge verschlimmerten, stellte ich mir die Frage, was ich wirklich noch dringend loswerden muss.“ Bei Videokonferenzen gab Spielberg mehr und mehr Erinnerungen preis, die Kushner sorgsam zu Papier brachte. „Tony übernahm sozusagen die Funktion eines Therapeuten. Ich war sein Patient“, so Spielberg. „Ich habe eine sehr lange Zeit geredet. Tony hat mich dabei unterstützt, das Ganze durchzustehen.“

„Bei allem, was Steven zu Tage förderte, fühlte ich mich geehrt, eine Vertrauensperson zu sein“, so Kushner. „Er trauerte sehr und ich glaube, dass unsere Gespräche eine Möglichkeit waren, seinen Schmerz und Verlust zu verarbeiten. Ich erinnere mich, dass ich dachte: ‚Selbst dann, wenn nichts dabei herauskommt, war das hier eine erstaunliche Erfahrung.‘“

Tatsächlich kam aber etwas dabei heraus – nämlich ein 90-seitiges Treatment, das nach Kushners Einschätzung genügend Material für sechs Filme enthielt. „Jedes Mal, wenn ich ihm einen Teil davon zeigte, sagte er: ‚Oh, ich habe Dir noch gar nicht erzählt, wie es dazu kam!‘ Also fügte ich noch mehr Details hinzu“, so Kushner. „Schließlich sagte ich ihm, dass er mir nichts mehr erzählen darf, denn ich hatte einfach keinen Platz mehr.“

Nach einem ersten Drehbuchentwurf im September 2020 begannen Kushner und Spielberg am 2. Oktober mit der gemeinsamen Arbeit an einer Drehfassung, an der sie drei Tage pro Woche jeweils vier Stunden täglich feilten (zu Spielbergs weiteren Drehbuch-Credits gehören Unheimliche Begegnung der dritten Art und A.I.: Artificial Intelligence). Bei der Umsetzung der Fakten in eine Geschichte wurden Zeitabläufe verkürzt, einige Details verändert und verschiedene künstlerische Freiheiten in Anspruch genommen. Die Namen der Figuren, die Spielberg (Sammy), seine Mutter (Mitzi), seinen Vater (Burt) und seine Schwestern (Reggie, Natalie, Lisa) repräsentieren, stammen vom Regisseur selbst. Kushner wiederum war es, der die Idee zum Familiennamen „Fabelman“ hatte. Als er über den Namen Spielberg (auf Englisch etwa „play mountain“) und seine eigene Beziehung zu dem gesammelten Stoff nachdachte, kam Kushner der Begriff „Fabel“ in den Sinn. Dieser bezeichnet in der Literaturtheorie eine von einem Dramatiker oder Regisseur erdachte Zusammenfassung eines Stücks, die seine Interpretation des Textes hervorhebt, um ihn besser zu verstehen.

DIE FABELMANS ist ohne Zweifel ein Porträt des Künstlers Spielberg als junger Mann und ein Versuch, seinen Eltern ein würdiges Denkmal zu setzen. Dabei ist zu gleichen Teilen Dankbarkeit für ihre Tugenden und Verständnis für ihre Schwächen zu spüren, aber auch eine 

gewisse humanistische Note, die alle Filme Spielbergs auszeichnet. Doch obwohl jede Szene auf einem Ereignis aus Spielbergs Kindheit beruht, „spricht der Film für mich, aber auch für Tony“, so der Regisseur. Und so ist die Geschichte durchdrungen von ihrem jeweiligen persönlichen Hintergrund und ihren gemeinsamen intellektuellen Interessen und moralischen Überzeugungen.

Die Erlebnisse der Familie Fabelman zum Beispiel spiegeln einen spezifischen jüdisch- amerikanischen Alltag in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts wider. „Einer der Gründe, warum Steven und ich uns während der Arbeit an München so verbunden fühlten, war, dass wir beide eine sehr starke Verbundenheit zum jüdischen Leben und zum jüdischen Glauben haben“, sagt Kushner. „Das war einfach ein Teil der Geschichte, die wir erzählen wollten – eine Geschichte über eine jüdische Familie. Die Fabelmans sind, was sie sind – und das leben und zeigen sie auch ganz unbeschwert und voller Stolz.“

Darüber hinaus fängt der Film einen besonderen Augenblick der Filmkultur an sich ein. Sammy rutscht in eine Identitätskrise, als er ein Heimvideo sieht, das seine Vorstellung über seine Eltern auf den Kopf stellt und seinen Glauben an ziemlich alles erschüttert, was er bisher zu wissen glaubte. Sammys Charakterentwicklung ist somit eng mit der Geschichte Hollywoods in der Mitte des 20. Jahrhunderts verknüpft: Damals rückte die Branche mehr und mehr von großen Studio-Spektakeln und B-Genrefilmen ab. Stattdessen etablierte sich das „New Hollywood“ der 70er-Jahre mit innovativen Filmen, die roh, realistisch und aufsehenerregend waren – manchmal alles auf einmal. Doch Sammys Beziehung zur Kamera dient auch als abschreckendes Beispiel für eine Kultur der Selbstdokumentation und der sozialen Medien. Sein Streben nach Nervenkitzel und kathartischer Erlösung geht über in ein komplexeres Bewusstsein dafür, wie Bilder unterhalten und aufklären, entlarven und manipulieren, mythologisieren und dämonisieren können. Der Junge, der zu seinem Vergnügen Zugunglücke filmt, lernt mit zunehmendem Alter, dass Bilder Menschen auch traumatisieren können.

DIE FABELMANS ist eine zutiefst persönliche und zugleich universell gültige Geschichte über die Gewinne und Verluste, die die Jagd nach dem amerikanischen Traum mit sich bringt. Im Mittelpunkt stehen dabei Menschen, Familien, Freunde, eine ganze Kultur, und ihre Bemühungen, sich selbst zu erkennen und gegenseitig wertzuschätzen. „Ich wollte nicht, dass die Geschichte beschönigt erzählt wird“, sagt Spielberg. „Das Ziel war es, alles so zu erzählen, dass die Menschen ihre eigenen Familien darin wiedererkennen können. Denn in dieser Geschichte geht es um Familie, um Eltern, um Geschwister, um Mobbing, um die guten und schlechten Dinge, die passieren, wenn man in einer Familie aufwächst, die so lange zusammenhält, bis sie nicht mehr zusammen ist. Es ist eine Geschichte über den Prozess der Vergebung und darüber, wie wichtig der Weg dorthin ist.“

Spielberg und Kushner stellten ihren ersten Entwurf für DIE FABELMANS im Dezember 2020 fertig und feilten bis ins folgende Jahr weiter am Drehbuch. Dabei holten sie sich Anregungen von bewährten Partnerinnen und Partnern, darunter Spielbergs Ehefrau Kate Capshaw, Kushners Ehemann Mark Harris und Dramatiker Tom Stoppard. Spielbergs Team, angeführt von Produzentin Kristie Macosko Krieger, begann wenig später mit den Vorbereitungen für einen 60-tägigen Dreh. Im Juli begann Regisseur Spielberg, die Geschichte seines Lebens zu verfilmen.

Für Spielberg und sein gesamtes Umfeld brachten die Dreharbeiten unerwartete Emotionen mit sich. „Ich habe mir geschworen, professionell zu bleiben“, sagt Spielberg. „Ich wollte eine gewisse Distanz zwischen mir und dem Thema wahren. Aber das war schwer umzusetzen. Die Geschichte rief bei mir immer wieder konkrete Erinnerungen wach. Es war verrückt, Dinge nachzustellen, die mir tatsächlich passiert waren und zu sehen, wie sich alles erneut direkt vor meinen Augen abspielt. So etwas habe ich noch nie erlebt.“

Spielbergs engagiertes Team unterstützte den Regisseur nach Kräften. „Es konnte vorkommen, dass Steven vergaß, ‚Schnitt‘ zu rufen, weil er so sehr in eine Szene vertieft war, die gerade gedreht wurde. Dann musste er sich einen Moment Zeit für sich selbst nehmen“, so Produzentin Kristie Macosko Krieger. „Also haben wir alle am Set dafür gesorgt, dass er dafür ausreichend Zeit hatte.“

Am ersten Arbeitstag wurde in einem Nachbau des Hauses von Spielbergs Familie in Phoenix, Arizona, gedreht. „Als ich am ersten Tag ans Set kam, musste ich mich wirklich zusammenreißen“, erinnert sich Spielberg. „Ich ging alleine durch die Räume und hatte einen Kloß im Hals. Dann ging ich raus und begann, mich für die erste Aufnahme vorzubereiten. Dann kamen die Schauspieler auf die Bühne. Michelle Williams trägt exakte Nachbildungen von Kleidern, die meine Mutter getragen hat. Ihre Lieblingskleider. Paul Dano sah genauso aus wie mein Vater. Ich sah Paul und Michelle zusammen dort stehen und es gab einen kleinen Moment, in dem alles wie in Zeitlupe ablief, wie bei einem Autounfall. Ich sah sie einfach nur an und sah weder Michelle noch Paul. Ich sah Leah und Arnold. Ich sah meine Mutter und meinen Vater. Ich hatte das Gefühl, irgendwie meinen Verstand verloren zu haben. Und was geschah dann? Michelle und Paul kamen beide auf mich zu und nahmen mich in die Arme. Wir drei umarmten uns, und das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“

So emotional die Drehtage auch oft waren, der Abschluss der Filmarbeiten erwies sich als schwieriger als ihr Beginn. „Das ist der schwierigste Film, den ich je zu Ende bringen musste“, sagt Spielberg. „Ich dachte, es wäre West Side Story. Ich dachte, es wäre E.T.. Aber das hier war wirklich hart. Ich konnte mir nicht vorstellen, meine Karriere zu beenden, ohne diese Geschichte erzählt zu haben. Der Film war für mich wie eine Zeitmaschine. Aber wenn sich diese Zeitmaschine plötzlich ausschaltet und all die Erinnerungen an ihrem Platz festsitzen, eine Reihenfolge haben, zusammengeschnitten worden sind und dann nicht mehr verändert werden können...? Ich glaube, Thomas Wolfe hatte Recht, als er sagte, dass kein Weg zurück führt. Mir wurde am Ende der Dreharbeiten zu DIE FABELMANS klar, dass ich nie wieder nach Hause zurückgehen kann. Aber wenigstens habe ich das hier, um es zu teilen.“

Foto:
© Verleih

Info:
Stab:
Regie Steven Spielberg
Drehbuch. Steven Spielberg, Tony Kushner

Darsteller 
Sammy.     GABRIEL LABELLE 
Mitzi.         MICHELLE WILLIAMS 
Burt        PAUL DANO
Bennie    SETH ROGEN 
Monica.   CHLOE EAST
Reggie.     JULIA BUTTERS 
Logan.     SAM RECHNER
Onkel Boris   JUDD HIRSCH 
Natalie.   KEELEY KARSTEN 
Junger Sammy.   MATEO ZORYAN , FRANCIS-DEFORD