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Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom Donnerstag, 14. September 2023, Teil 7

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - WAS WAREN IHRE GRUNDLEGENDEN VORSÄTZE?

 

Ich wollte mich vor allem frei fühlen und mir nichts auferlegen. Ich wollte mich nicht zu sehr um die Architektur des Films kümmern müssen, weil ich überzeugt war, dass die Einheit des Ortes zusammen mit den identifizierbaren und wiederkehrenden „Figuren“ ausreichen würde, um den Kitt zu bilden und eine freie Konstruktion zu ermöglichen. Ich folgte den Personen, verlor sie, fand sie später wieder, filmte ein Treffen, einen Workshop, die Begrüßung eines Neuankömmlings, filmte private Gespräche, informelle Begegnungen: an der Rezeption, an der Bar, in der Küche, auf der Terrasse, zwischen zwei Türen, fing einen spontanen Austausch ein, einen Monolog, ein Wortspiel, und hielt all diese kleinen Details fest, die man trivial, exzentrisch, anekdotisch oder einfach idiotisch finden könnte und die das Gewebe des Films werden würden, den wir drehten.

Ich habe schon immer gern improvisiert, und im Laufe der Zeit ist die Improvisation für mich zu einer ethischen Notwendigkeit geworden. Vor allem: nichts erklären. Es vermeiden, den Film einem Programm zu unterwerfen, einer bereits existierenden Idee, die zum Ausdruck gebracht werden muss. Jede Andeutung von Absicht aufspüren

Außerdem läuft nie etwas nach Plan, die Anwesenheit einer Kamera mischt die Karten immer neu. Einen Dokumentarfilm zu machen bedeutet, sich mit dem Zufälligen zu beschäftigen, mit allem, was sich der Vorhersage entzieht. Die schönsten Szenen sind oft die, die sich überraschend und unvorherge- sehen ergeben. Manchmal genügt es, einfach nur da zu sein, die Umgebung aufmerksam wahrzunehmen und daran zu glauben, damit dieser Ort zum Schauplatz wird, diese Männer und Frauen zu Figuren einer Geschichte, diese scheinbar unbedeutenden Handlungen zu echten Geschichten. Für mich ist es das Wichtigste, einen soliden Ausgangspunkt zu haben, wie das Versprechen, dass etwas passieren wird. „Ich schreibe meine Bücher, um herauszufinden, was in ihnen steckt“, hat der Schriftsteller Julien Green einmal gesagt. Diesen Satz passt auch zu meiner Arbeit.


WIE HABEN SIE DAFÜR GESORGT, DASS SIE MIT IHRER KAMERA AKZEPTIERT WERDEN?

Bevor man ernten kann, muss man säen: das Vertrauen derer gewinnen, die man filmen will. Glücklicherweise kannten einige der Pflegekräfte und einige Patient*innen den einen oder anderen meiner Filme. Das hat geholfen. Ich habe mir die Zeit genommen, mein Projekt zu erklären, ohne zu versuchen, meine Bedenken zu verbergen, sondern sie im Gegenteil mit allen zu teilen. Auch das hat geholfen. Sie verstanden, dass ich meine Ansprüche in erster Linie auf mich selbst bezog. Schließlich sahen sie, dass ich bereit war, mich mitreißen zu lassen, dass sich der Film nach den Umständen, den Zufälligkeiten, der Verfügbarkeit und nicht aus einer Position der Überlegenheit heraus aufbauen würde. Am Ende gab es eine ziemlich spontane Akzeptanz. Auch Neugierde. Und bei vielen auch der Wunsch, dabei zu sein. Einige Leute baten darum, nicht gefilmt zu werden, ohne unsere Anwesenheit abzulehnen.

WIE LANGE HABEN DIE DREHARBEITEN GEDAUERT UND WIE VIEL FILMMATERIAL HABEN SIE GESAMMELT?

Ich hatte geplant, mir Zeit zu lassen, aber wenn die Dreharbeiten zu lange dauern, kann es auf- dringlich werden. Man muss also ab und zu verschwinden, um den Leuten eine Pause zu gönnen. Daher die Dreharbeiten in mehreren Etappen, die sich schließlich über sieben Monate - von Mai bis November 2021 - erstreckten, weil Covid mitmischte... ein paar vereinzelte Tage Anfang 2022 nicht mitgerechnet. Mit der gleichen Idee im Hinterkopf - um nicht zu aufdringlich zu sein - habe ich oft allein gedreht. Als das Team komplett war, waren wir zu viert: ein Tontechniker, ein Kameraassistent, ein Praktikant und ich hinter der Kamera. Um eine Sitzung oder einen Workshop zu filmen, mussten wir einen Galgen benutzen, und
an manchen Tagen mussten wir mit zwei Kameras drehen, aber in intimeren Situationen kam ich allein zurecht. Wahrscheinlich habe ich die Hälfte der Zeit allein gedreht. Am Ende hatte ich etwa hundert Stunden, vielleicht auch etwas mehr. Das ist eine ganze Menge. Aber beim Drehen geht es nicht darum, so viel Material wie möglich zu sammeln und zu denken: „Das sehen wir später, das sehen wir, wenn wir schneiden“, sonst gäbe es keinen Grund, aufzuhören. Drehen bedeutet, bereits mit dem Aufbau des Films zu beginnen, Assoziationen herzustellen, nach Entsprechungen zu suchen, Situationen ins rechte Licht zu rücken. Es bedeutet also, bereits an den Schnitt zu denken.

WIE HABEN SIE DEN FILM WÄHREND DES SCHNITTS KONSTRUIERT?

Ich musste ein Gleichgewicht finden zwischen den Momenten des täglichen Lebens mit allem, was es kennzeichnen kann - Workshops, Treffen, die Bar, informeller Austausch - und intimeren Momen- ten, in denen mir eine Person ein wenig von ihrer Geschichte anvertraut, ohne dabei die Einheit des Ganzen zu vernachlässigen. Eine weitere Herausforderung bestand darin, das Kollektiv, das an diesem Ort - aus therapeutischer Sicht - so wichtig ist, existieren zu lassen, ohne dass sich das Publikum verloren fühlt. Deshalb brauchte ich einige wiederkehrende „Charaktere“, zu denen man eine Verbindung entwi- ckelt. Auch hier musste ein Gleichgewicht gefunden werden.

Es war mir natürlich sehr wichtig, dass das Publikum die Patient*innen hört. Ihre Sensibilität, ihre Klarheit, manchmal auch ihren Humor. Ihre Worte, ihre Gesichter. Ihre Verletzlichkeit, die hier und da auf unsere trifft. Ich wollte, dass wir uns mit ihnen identifizieren können oder zumindest erkennen, was uns jenseits unserer Unterschiede verbindet: so etwas wie eine gemeinsame Menschlichkeit, das Gefühl, Teil der gleichen Welt zu sein. Auch hier habe ich großen Wert auf Stimmen, Akzente, Sprache, Sprechen und Zuhören gelegt. LA VOIX DE SON MAÎTRE, IM LAND DER STILLE, NICHTS ALS KLEINIGKEITEN,
LA MAISON DE LA RADIO, NÉNETTE... meine Filme sind alle Variationen von Sprache, mit Lücken, Fülle
und Stille. Es geht um Rhythmus und Klang.


IM FILM SCHEINEN DIE PFLEGEKRÄFTE MEHR ODER WENIGER IM HINTERGRUND ZU STEHEN. MAN KANN SIE NICHT IMMER VON DEN PATIENT*INNEN UNTERSCHEIDEN..

In der Tat gibt es nichts, was sie auf den ersten Blick als solche ausweist, denn sie tragen keine weißen Kittel, haben keine Spritzen in der Hand... Kurzum, sie entsprechen nicht den Klischees. Außerdem habe ich nichts von den täglichen Treffen, die sie untereinander abhalten, in den Film eingebracht, und auch keine Szenen, in denen sie etwas erklären. Dennoch stehen sie nicht im Hintergrund: Wir sehen sie im Gespräch mit den Patient*innen, bei der Durchführung von Workshops (Zeichnen, Buchführung), bei der Co-Moderation von Sitzungen, kurz gesagt, sie spielen ihre Rolle voll und ganz, aufmerksam, oft diskret, aber sehr präsent. Man könnte sagen, dass die Pflege in erster Linie die Pflege der Atmosphäre ist, sie ist nicht frontal, sie ist subtil, oft unmerklich, sie geht durch tausend und ein Detail. Ein großer japani- scher Modedesigner hat einmal gesagt: „Das Wichtigste an einem Kleidungsstück ist das, was es hervor- hebt und dabei unsichtbar bleibt, seine verborgene Seite“.

Die Tatsache, dass nicht von vornherein zwischen Patient*innen und Pflegepersonal unter- schieden wird, kann ein wenig verwirrend sein, da stimme ich zu. Es ist traurig, das zu sagen, aber heute, in diesen Zeiten des innerlichen Denkens, ist es so, als ob wir die Menschen in Schubladen stecken müssen, um uns zu beruhigen, indem wir genau wissen, wer wer ist, wer was tut. Der Typ da drüben? Ein Schizophrener! Und der da? Ein Krankenpfleger! Aber die Adamant hat - wie La Borde, La Chesnaie und andere Orte - eine andere Philosophie. Viele Aktivitäten werden dort gemeinsam organisiert. Die Betreue- rinnen und Betreuer verbringen ihre Zeit nicht damit, sich in ihren Status zu hüllen, um als das zu erschei- nen, was sie sind. Die Grenze zwischen Betreuer*innen und Betreuten, wenn es denn eine gibt, wird nicht als Bollwerk errichtet. Mit dieser Logik versetzt der Film das Publikum in die Lage, sich bestimmter Klischees zu entledigen. Es ist eine intendierte politische Position. Sie macht die Dinge komplexer, während uns heute alles zur Vereinfachung drängt.

 

DER FILM ENDET IM NEBEL...

Das war eine Idee, die ich schon sehr früh hatte und die ich unbedingt beibehalten wollte. Zwei Monate lang habe ich meinen Wecker auf fünf Uhr morgens gestellt, um das Wetter zu beobachten. Leider gibt es in Paris selbst so gut wie keinen Nebel. Am Ende habe ich ein wenig davon eingefangen, aber ich hätte mir gewünscht, dass er viel einhüllender gewesen wäre. Wie eine Art Hommage an die Dunstigkeit. Eine Verwischung der Ränder. Mit anderen Worten: der sakrosankten Normalität.

DIESER FILM IST DER ERSTE TEIL EINES TRIPTYCHONS. KÖNNEN SIE EIN PAAR WORTE ZU DEN BEIDEN ANDEREN SAGEN?

Den zweiten Teil habe ich in Esquirol gedreht, in den beiden krankenhausinternen Abteilungen, die zur Gruppe des Pariser Zentrums gehören. Er wird Averroès und Rosa Parks heißen, denn das sind die Namen der beiden Stationen. Er basiert weitgehend auf Einzelgesprächen zwischen Patient*innen und Psychiater*innen. Einige der Patient*innen, die auf der Adamant gefilmt wurden, werden darin zu sehen sein. Er wird derzeit bearbeitet. Der dritte Film wird eine Sammlung von Hausbesuchen von Betreuer*in- nen bei Patient*innen sein. Der endgültige Titel steht noch nicht fest. Auch hier werden einige bekannte Gesichter zu sehen sein. Der größte Teil des Films ist bereits gedreht und teilweise geschnitten.

Aber ich muss auf einen Punkt bestehen: Die drei Filme sind völlig unabhängig voneinander. Man muss den ersten nicht gesehen haben, um die nächsten zu sehen. Man kann sie in beliebiger Reihenfolge sehen, oder nur einen, usw. Sie haben gemeinsam, dass sie in der Zentralen Psychiatrischen Gruppe von Paris spielen, aber es sind drei sehr unterschiedliche Filme. Sie werden im Abstand von einigen Monaten in die Kinos kommen. Ich hatte mir vorgenommen, nur einen Film zu machen, aber es ist anders gekommen.
 

FESTIVALS UND PREISE:

· 73. Berlinale 2023 – Goldener Bär (bester Film)
· 73. Berlinale 2023 – Preis der ökumenischen Jury: lobende Erwähnung

 
Foto:
©Verleih

Info:
Regie, Kamera, Schnitt.   Nicolas Philibert
Regie unter Mitwirkung von.  Linda De Zitter
Kameraassistenz.     Rémi Jennequin, Pauline Pénichout, Camille Bertin, Katell Djian
 
Abdruck aus dem Presseheft