girl1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 16. November 2023, Teil 4

Redaktion

Dublin (Weltexpresso) – Was hat Sie an dieser Geschichte besonders fasziniert?


Es geht um ein Kind, dass seinem Alter voraus ist und die Welt mit einer echten emotionalen Intelligenz beobachtet. Ich mag, dass es im Kern eine kleine Geschichte ist. Ich liebe Geschichten, die scheinbar harmlos sind, dass man sie beinahe unterschätzt. Wenn man sich aber auf sie einlässt, erkennt man, dass sie eine große Tiefe besitzen. Für mich als Filmemacher war es eine wunderbare Herausforderung, diese berührende Geschichte auf die Leinwand zu bringen.

Als ich zum ersten Mal auf diese Geschichte stieß, waren ich und meine Frau, die Produzentin Cleona Ní Chrualaoi, gerade Eltern geworden. Wir bekamen unseren ersten Sohn. Er war zu diesem Zeitpunkt etwa eineinhalb Jahre alt. Wir befanden uns also mitten in einem neuen Lebensabschnitt und hatten diesen neuen Menschen in unserem Leben. Das war wohl auch der Grund, warum ich mich zu dieser Geschichte hingezogen fühlte. Die Hauptfigur ist ein Kind, und obwohl es ein fiktives Kind ist, war meine Reaktion auf die Erzählung davon geprägt, dass ich jetzt selbst Vater bin. Meine Sichtweise war sehr auf die Bedürfnisse von Kindern ausgerichtet und die Tatsache, dass Kinder Aufmerksamkeit, Fürsorge und Liebe brauchen, wurde mir sehr deutlich vor Augen geführt. Ich glaube, dass es deshalb eine Art mitfühlende Reaktion unsererseits gab. Und ich hoffe, dass der Film diese anfänglichen Impulse, die wir beide erlebten, nämlich eine Art Zärtlichkeit gegenüber dieser Figur auszudrücken, irgendwie vermittelt. Ich denke, es ist ein zärtlicher Film. Wir wollten aber auch nicht etwas machen, das sentimental ist. Wir wollten, dass der Film Klarheit besitzt, aber dennoch eine sehr emotionale Geschichte erzählt, die herzzerreißend und hoffnungsvoll zugleich ist.

Worum geht es in THE QUIET GIRL?

Der Film porträtiert ein junges Mädchen, dessen Lebensumstände alles andere als ideal sind und dessen Zukunft ungewiss ist. Der Film bietet keine einfachen Antworten auf die Frage, wie das Schicksal des Mädchens aussehen könnte. Gleichzeitig möchte ich aber glauben, dass der Film die Position der Hoffnung vertritt. Die junge Caít findet sich für einen Sommer bei Pflegeeltern wieder, mit Menschen außerhalb ihrer unmittelbaren Familie. Fremde Menschen, die plötzlich zu ihr stehen werden und sie in gewisser Weise nähren, ihr eine andere Art von Leben zeigen. Das ist etwas, dass sie auch später bei sich tragen wird.

Ein Teil von mir sieht den Film so, als ob Caít als Erwachsene später über dieses Erlebnis nachdenken wird und mit einem erwachsenen Verständnis zu schätzen weiß, was dieser Sommer bedeutete. Natürlich ist der Film offen für viele verschiedene Interpretationen, aber diesen Gedanken mag ich, dass Caít aus einer besseren Posi- tion heraus an diese Zeit zurückdenken wird, mit einem Gefühl der Dankbarkeit und des Verständnisses für das, was sie in diesem Sommer gelernt und erlebt hat.

Der Film ist ein Versuch, etwas einzufangen, das flüchtig ist und irgendwie unsichtbar und sicherlich unausge- sprochen, aber etwas, das immer noch ein tiefgreifen- der Moment im Leben dieser drei Figuren ist, Caít und ihre Pflegeeltern, denen sie im Verlauf dieses Sommers begegnet. Und es wird fast zu diesem wortlosen Geheimnis zwischen den dreien, dass sie einander verstehen und den Schmerz des anderen erkennen, und dass sie sich schließlich in einem tiefen, familiären Sinn lie- ben lernen. In gewisser Weise ist das etwas, das fast zwangsläufig jenseits der Sprache geschieht. Es ist etwas, das die Figuren eher fühlen als etwas, das sie sich gegenseitig sagen würden. Und es ist etwas, das in der Gestik zum Ausdruck kommt, im Hinlegen eines Kekses auf den Tisch oder in Umarmungen. Das verleiht der Geschichte Zeitlosigkeit. Das hat etwas sehr Elementares und etwas sehr Universelles an sich, das man überall verstehen kann. Jeder versteht, wie es sich anfühlt, sich nach Zuneigung und Liebe zu sehnen. Jeder versteht, wie es sich anfühlt, das zu geben und zu empfangen.

Welche Rolle spielt dieses Schweigen für die Dramaturgie des Films? Wir leben heute in einer Zeit, in der unaufhörlich Text und Rede produziert und reproduziert werden, davon hebt sich der Film angenehm ab.

Es ist kein Film, der auf die Handlung angewiesen ist. Darum geht es in dem Film nicht wirklich. Es geht viel mehr um den Aspekt der Erfahrung und darum, die Dy- namik der Figuren zu beobachten. In gewisser Weise geht es auch um das Zuhören. Der Film sagt sehr ge- nau, was nicht gesagt wird und das Schweigen selbst ist eine sehr wichtige Figur in diesem Film. Natürlich gibt es viele verschiedene Arten von Stille in diesem Film.

Es gibt das Schweigen aus Angst und das Schweigen aus Scham, das dieses junge Mädchen umgibt, vor allem in den frühen Phasen der Geschichte. Aber dann gibt es auch die Stille der Trauer. Die Trauer ist ebenfalls eine Figur. Es gibt eine zentrale Tragödie im Herzen des Films, die in gewissem Sinne völlig schweigsam ist, da keine der Hauptfiguren jemals darüber spricht. Das mag ich an der Geschichte. Sie hat einen bedeutenden emotionalen Kern, der eigentlich nie direkt angesprochen wird. Wie ein Geist, der den Film durchdringt, der einfach präsent ist und das junge Mädchen umkreist. Es ist etwas, das sie im Laufe der Zeit entdeckt.

Auch wie Caít alles verarbeitet, findet ganz ohne Dialog statt. Ich fühle mich immer besonders zu einer Art von Kino hingezogen, in dem Dialoge und Exposition nicht im Vordergrund stehen. Wo sich die Filmemacherin oder der Filmemacher nicht auf diese Dinge verlassen. Mich faszinieren Filme, die in der Lage sind, den emotionalen Raum einer Geschichte textfrei zu erforschen und zu präsentieren.

Es muss natürlich nicht jeder Film so sein, aber für mich ist das eine sehr reine Form des Kinos und eine, die sich in meinen Augen wirklich transportiert. Das Kino ist seine eigene Form der Sprache und das Schöne daran ist, dass es eine universelle Sprache ist, die keine Grenzen kennt. Ich denke, das gilt umso mehr, wenn man den Dialog eines Films reduziert. Dann hat er das Potenzial, noch universeller zu werden. Das war immer unsere Hoffnung bei THE QUIET GIRL. Es ist wundervoll zu sehen, wie der Film jetzt reist und wie er von den Zuschauern überall angenommen wird. Denn offensichtlich ist es ein irischer Film in irischer Sprache, was eine echte kulturelle Besonderheit ist. Das ist Irland und das ist, wer wir sind und sicherlich, wer wir waren.

Der Film spielt 1981 und ist ein akkurates Porträt der Iren, besonders in Bezug auf unsere emotionale Beziehung zueinander und wie wir uns vielleicht nicht immer am besten gefühlsmäßig ausdrücken können. Es war wunderbar zu sehen, dass obwohl der Film so irisch ist, die universellen Elemente bei Zuschauern auf der ganzen Welt so klar und deutlich ankamen, egal, wo wir den Film zeigten. Entweder persönlich auf Filmfestivals oder über unsere Social-Media-Kanäle sprachen uns Leute an und dankten uns für diesen Film. Sie erkannten sich selbst in diesem jungen Mädchen wieder. Die Erfahrung dieses jungen Mädchens, das Umfeld, aus dem es kommt und die Herausforderungen, denen es sich stellen muss, scheint für viele Menschen mit ähnlichen Erfahrungen verknüpft zu sein. Sie zeigten sich dankbar, weil sie sich in gewisser Weise gesehen fühlten, und dass die Erfahrung, den Film zu sehen, für sie wirklich kathartisch war. Das bedeutet mir als Filmemacher und uns als Filmteam wirklich die Welt, dass unser Film diese Art von Wirkung besitzt.

Gibt es eine Szene, die Ihnen besonders am Herzen liegt?

Ich denke, keine Szene drückt die nonverbale Kraft bes- ser aus, als die jetzt irgendwie berühmte Szene mit den Kimberley-Keksen, in der Sean gegenüber Caít seine Zuneigung und eine Art Entschuldigung ausdrückt – ohne etwas zu sagen, sondern nur mit diesem einen Keks. Im Wesentlichen ist es ein Kimberley-Keks, der in vielerlei Hinsicht ein Grundnahrungsmittel des iri- schen Lebens ist. Die Schauspieler haben das wirklich gut umgesetzt, denn es war im Drehbuch klar, dass es bei dieser Geschichte nicht so sehr auf die Worte an- kommen würde, sondern vielmehr um die physische Be- ziehung der Figuren zueinander, und dass der Subtext des Films tatsächlich in diesen Räumen zu finden ist. Es ist ein Zeichen für Andrew Bennetts wunderbare Be- scheidenheit, die sich auch in seinem Schauspiel zeigt. Eine wunderbar unaufdringliche Darstellung, beschei- den und auf eine Art und Weise wiederum großzügig. Er lässt den anderen Schauspielern immer Raum. Das liebe ich an ihm, aber es entspricht auch seiner Figur.

Sean ist ein Mann weniger Worte, aber ein Mann mit einem großen Herzen.

Wie kam es zu der Entscheidung, den Film in irischer Sprache zu drehen?

Dieser Film ist nicht nur ein irischer Film. Er ist auch ein Film in irischer Sprache. Und das ist etwas, das mir persönlich sehr wichtig ist. Ich habe eine sehr enge persönliche Verbindung zur irischen Sprache. Ich bin zweisprachig aufgewachsen. In Dublin, das vorrangig eine englischsprachige Stadt ist. Mein Vater hat nie Englisch mit uns gesprochen, immer Irisch. Und ich habe meine gesamte Schulausbildung in der irischen Sprache absolviert. Sie war immer ein Teil dessen, was ich bin, und damit auch ein Teil meines Berufslebens. Ich arbeitete viele Jahre beim Fernsehen und drehte viele Dokumentarfilme in irischer Sprache. Alle meine Kurzfilme vor diesem Film waren Irisch. Als sich also die Gelegenheit bot, einen irischen Spielfilm zu drehen, habe ich sie ergriffen. Auf eine seltsame Art und Weise war es mir bestimmt.

Die irische Sprache ist unsere offizielle Sprache hier in Irland, aber sie ist nicht die Arbeitssprache unseres Landes. Wir sind größtenteils ein englischsprachiges Land. Ich glaube, weniger als 2 % der Iren sprechen tatsächlich täglich Irisch. Die irische Sprache existiert also nur in diesen sehr kleinen Gaeltacht-Gebieten des ländlichen Irlands. Und dennoch gibt es sie. Sie existiert in einigen Formen auch in den städtischen Zentren des Landes. Es gibt irische Sprachschulen, die zwar im Bildungssystem eine Minderheit darstellen, aber es gibt sie.

Wenn man den Durchschnittsiren fragt, werden die meisten sagen, dass sie gerne die irische Sprache spre- chen würden und es bedauern, dass sie es nicht können. Unsere Sprache kämpft in gewisser Weise ums Überleben. Sie steht auf der Liste der bedrohten Sprachen der UNESCO. Es ist eine Sprache, die jede Hilfe braucht, die sie bekommen kann. Und damit eine Sprache exis- tieren und gedeihen kann, muss sie kulturell lebendig sein. Sie muss in kulturellen Räumen gesehen und ge- hört werden. Und das ist das Kino für die Iren. Einer der wichtigsten kulturellen Sammelpunkte. Die Iren sind berühmt für ihre Vorliebe für Filme und insbesondere für Kinobesuche. Ich glaube, wir haben eine der höchsten Pro-Kopf-Besucherquoten in Europa, jedenfalls was das Kino angeht.

Die Oscar®-Nominierung fühlte sich wie ein Wendepunkt an, nicht nur für die irische Filmbranche, sondern auch für unsere Sprache. In Irland herrscht jetzt eine außerordentliche Aufregung, weil das passiert ist.

Hoffentlich werden wir uns als Nation weiterhin durch das Medium Film in der irischen Sprache ausdrücken, und es gibt Raum für beides. Wir sind ein zweisprachi- ges Land. Wir hoffen aber, dass dieser Film in gewisser Weise dazu beigetragen hat, die Irische Sprache zu be- wahren und zu fördern und den Menschen einen Weg zurück zu dieser Sprache zu geben.

Fortsetzung folgt

Foto:
©Verleih

Info:
The Quiet Girl (Irland 2022)
Originaltitel: An Cailín Ciúin 
Filmlänge: ca. 95 Min.
Regie: Colm Bairéad
Drehbuch: Colm Bairéad nach der Kurzgeschichte Foster von Claire Keegan (2010)
Darsteller: Catherine Clinch, Carrie Crowley, Andrew Bennett, Michael Patric, Kate Nic Chonaonaigh u.a.
Verleih: Neue Visionen Filmverleih GmbH
FSK: ab 12 Jahren

 

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