tunesiche frauInternationale Filmfestspiele Berlin vom 15. bis 25. Februar 2024, Wettbewerb Teil 20

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Drama und Trauma. Das immer wieder versteinerte Gesicht von Aïcha ( Salha Nasraoui) wird man noch lange im Gedächtnis behalten, eine Frau, eine Mutter von drei Söhnen, die mit ihrem Mann auf ihrem Bauernhof im Norden Tunesiens lebt und nicht verwinden kann, daß sich die beiden älteren Söhne Mehdi und Amine für den IS entschieden haben und heimlich nach Syrien abgehauen sind. Das darf niemand wissen, auch der kleine Bruder Adam (Rayen Mechergui ) nicht, dem sie erzählt, die älteren Brüder arbeiteten in Italien.

Lügen über Lügen, Angst über Angst, Schweigen und Verschweigen auch zwischen den Eheleuten, wo der Vater Brahim (Mohamed Hassine Grayaa) eine eindeutige politische Position hat, die Mutter auch eine eindeutige, allerdings eine persönliche: sie ist immer für die Söhne, egal, was diese angestellt haben, einschließlich IS-Morden. Der Polizist des Ortes Bilal (Adam Bessa) ist wie ein weiterer Sohn. Er hält sie auf dem Laufenden und schützt die Familie. Das ist auch nötig,, denn auf einmal taucht Mehdi (Malek Mechergui ) auf. Vollbart, wirre Haare und überhaupt in schlechter Verfassung, vor allem ohne seinen Bruder Amine, dafür mit einer schwangeren vollverschleierten Frau, Reem (Dea Liane), die er als seine Frau vorstellt, die stumm mit stark geschminkten blauen Augen erst verwirrend und dann bedrohlich wirkt. Mehdi war der, der Amine manipuliert hatte, mitzukommen und teilt nun dessen Tod mit. Das sieht man immer wieder in Rückblicken, die die Zeit der Brüder beim IS zeigen. Die entscheidende Szene wird kurz vor Schluß gezeigt, als die IS-Terroristen auf eine Frau heftig einprügeln, die unverschleiert an Händen und Füßen gepackt und hin- und hergeschleudert wird, entsetzlich anzusehen, es ist Reem und Mehdi soll sie erschießen.

Was ist passiert? Hat er sich verweigert, ist er mit ihr geflohen, aber wie hat er die anderen überwältigt? Und wurde Amine deshalb ermordet?

Die junge tunesisch-kanadische Regisseurin Maryam Joobeur hat auch das Drehbuch geschrieben und wird sagen, daß sie vieles dem Zuschauer überläßt. Es sind Angebote, sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen. Denn die Rückkehr von Mehdi auf den Hof muß geheimgehalten werden, damit er als IS-Sympathisant nicht ins Gefängnis kommt. Doch Reem macht sich gegen Morgen allein auf den Weg, blutige Tiere werden gefunden und andere Grausamkeiten geschehen.

Blut fließt auch, als sich Aïcha beim Kartoffelschälen tief in die Hand schneidet, eine Wunde, die ständig blutet, nicht heilt, wie auch die Wunde der IS-Söhne nicht heilen kann.
Der ganze Film kreist um Aïchas Reflektionen auf das Geschehen. Ihr Gesicht wird zunehmen düsterer, verzweifelter. Eigentlich kann sie nur mit dem Jüngsten, mit Adam ihre zärtliche Mütterlichkeit ausleben, ein intensiver Körperkontakt zeigt, daß sie einst eine andere Mutter war, als die gequälte Frau, als die wir sie erleben.

Das Geschehen ist so düster und schneidet zunehmend allen die Luft ab, auch den Zuschauerinnen. Aber dann gibt es immer wieder Licht, es gibt die Sonne, die aufblitzt und es gibt einen sachten Wind, der neu atmen läßt, die sanften Farben der Wüste, die Leben versprechen. Und dann passiert etwas, was sich schon angedeutet hatte. Es gibt hier die Steilküste, unten das Meer und oben die Möglichkeit, sich fallen zu lassen. Auch eine Lösung. Doch wer und wie und warum? Diese Fragen lassen sich nicht alle eindeutig beantworten. Das ist ein Film, der viele Fragen stellt, schon im Titel, der andeutet, daß es grundsätzlich darum geht, zu wem man gehört, welche persönlichen Bindungen die prägenden und lebendigen sind, die man dringend schützen sollte. Die Frage nach der Zugehörigkeit stellt am Schluß der Vater, als er einsam über die Küste schaut. Doch im Film steht im Mittelpunkt die Mutter, die sich solche Fragen nicht stellt, weil ihre Söhne auf jeden Fall zu ihr gehören. Auch, wenn sie tot sind.

Man hat beim Zuschauen das Gefühl, daß es um Existentielles geht, das uns alle angeht.

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Info:
von Meryam Joobeur
Tunesien / Frankreich / Kanada 2024Arabisch, Untertitel: Englisch, Deutsch117'FarbeWeltpremiere | Debütfilm

Stab
Regie Meryam Joobeur
Buch Meryam Joobeur
Kamera Vincent Gonneville

Besetzung
Salha Nasraoui (Aïcha)
Mohamed Hassine Grayaa (Brahim)
Malek Mechergui (Mehdi)
Adam Bessa (Bilal)
Dea Liane (Reem)
Rayen Mechergui (Adam)
Chaker Mechergui (Amine)


Meryam Joobeur
Die Regisseurin legt mit Mé el Aïn ihren ersten Spielfilm vor. Ihre Kurzfilme Gods, Weeds and Revolutions und Born in the Maelstrom wurden international gezeigt. Ihr oscarnominierter Kurzfilm Brotherhood lief auf über 150 Festivals und gewann 75 internationale Preise. Laut eigener Aussage glaubt sie von ganzem Herzen an die transformative Kraft des Geschichtenerzählens und hofft, dass ihre Filme die Schönheit, Komplexität und Universalität der menschlichen Existenz einfangen können.

Filmografie
2012 Gods, Weeds and Revolutions; Kurzfilm 2017 Born in the Maelstrom; Kurzfilm 2018 Brotherhood; Kurzfilm 2024 Mé el Aïn (Who Do I Belong To)
Stand Bio- & Filmografie: Berlinale 2024