kleinedingeSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. April 2024, Teil 2

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Wie entstand die Idee zu Ihrem zweiten Spielfilm?

MÉLANIE AUFFRET: Teile meiner Familie stammen aus kleinen Dörfern, ich selbst bin in einer Kleinstadt aufgewachsen. Ich habe gesehen und wahrgenommen, wie sich diese Umgebungen veränderten,
immer leerer wurden, wie Familien und junge Menschen in größere, attraktivere Städte zogen. Der ländliche Raum ist eine Quelle für Geschichten. Das Thema der Landflucht war naheliegend. Um so nah
wie möglich an der Realität zu sein, war Recherche vor Ort erforderlich. Die Recherche ist der Schritt, den ich am liebsten mag. Ich mache mich quasi auf den Weg, um mein Thema und meine Figuren zu
treffen. Ich habe Zeit mit vielen Bürgermeistern kleiner Gemeinden verbracht, um die Herausforderungen zu verstehen, vor denen sie stehen. Dann gab es Begegnungen, die sich tief eingeprägt haben. Da ist beispielsweise Fanny Lacroix, die Bürgermeisterin von Châtel-En-Trièves, eine kleine Gemeinde mit 500 Einwohnern im Departement Isère. Sie ist eine alleinerziehende Mutter mit überbordender Energie, deren Entschlossenheit und Mut mich sofort beeindruckt haben. Ihr Werdegang hat mich maßgeblich dabei inspiriert, Alice zu Leben erwecken zu können. Das Besondere am Phänomen der Landflucht ist, dass sie weitere Phänomene nach sich zieht. Die Abwanderung der Bevölkerung in die Großstädte führt nicht nur zu einem Verlust an Angeboten, sondern auch zu einem Verlust an sozialen Bindungen.

Zunächst schließen Geschäfte, Orte der Geselligkeit werden seltener, der Zugang zu ärztlicher Versorgung eingeschränkt, dann werden Schulen geschlossen ... Alices Kampf, ihre Schule am Laufen zu halten, verbindet sich mit dem Ringen von Émile, der mit 65 Jahren lesen lernen möchte. Im Gespräch mit den Bewohnern dieser Dörfer stellte ich fest, dass ihnen dieses unsichtbare Handikap des 
Dörfer verbunden ist. Es war mir wichtig, dies fürs Kino zu erzählen. Ich mag Komödien, in denen das scheinbar leichte Thema zum Nachdenken anregt. Der Film baut auf positive Figuren und unterstreicht,
wie wichtig es ist, Dinge gemeinsam zu tun. Für das Drehbuch habe ich meinen Ko-Drehbuchautor von „Roxane“, Michaël Souhaité, wieder an Bord geholt. Als Berater fungierte Romain Compingt, der uns
dabei half, das wahre Gerüst des Films zu finden: die Begegnung zwischen Alice und Émile. ES SIND DIE KLEINEN DINGE ist eine Geschichte, in der es um Menschen geht. Dieses Duo treibt den Film an und wirbelt das Schicksal des Dorfes, seiner Bewohner und der Personen, die sie umgeben, durcheinander.


Jedem Ihrer Projojekte geht eine umfassende Recherche voraus. Was haben Sie davon mitgenommen? Was haben Sie gelernt?

MÉLANIE AUFFRET: Ich liebe diese Arbeit. Es ist die Zeit, in der ich meine Notizbücher mit Anekdoten und Details vollschreibe, die mir helfen, die Geschichte noch authentischer zu machen. Mein Austausch mit Fanny Lacroix hat mir geholfen, der Figur der Alice mehr Authentizität zu verleihen. Wenn man gewählter Vertreter einer kleinen Gemeinde ist, bedeutet das viel mehr als eine klar definierte
Funktion. Es ist Hingabe. Man ist gleichzeitig Bürgermeister, Klempner, Straßenarbeiter, ElektrizitätsTechniker und sogar Psychologe oder Sexualtherapeut! Heute haben fast 60 Prozent der ländlichen
Gemeinden keine Geschäfte des täglichen Bedarfs mehr. Eine Bar auf dem Land ist schließlich viel mehr als nur ein Bistro. Sie ist der Ort, an dem sich die Leute treffen. Die andere Tangente des Films ist der Analphabetismus, der fast sieben Prozent der Bevölkerung unseres Landes betrifft. Auch hier wollte ich meinen Ansatz dokumentieren. Ich habe Jeannette, Philippe, Marie-Claude, Aline kennengelernt... Alle kehrten als Erwachsene auf die Schulbank zurück.

Sie hatten das Lesen und Schreiben nie richtig verinnerlicht. Ich war beeindruckt von der Energie und den Strategien, die sie an den Tag legen, um sich behaupten zu können. Viele von ihnen arbeiten und
haben einen Führerschein, es ist, als ob sie einen sechsten Sinn entwickelt hätten.


Zu welchem Zeitpunkt haben Sie sich Gedanken um die Schauspieler gemacht, die diese Geschichte zu Leben erwecken würden?

MÉLANIE AUFFRET: Ziemlich schnell. Auch wenn die Idee, Michel Blanc vor der Kamera zu haben, eher ein Traum als ein konkretes Vorhaben war. Er ist ein Schauspieler, der alles spielen und sich alles
aneignen kann, er ist fair und authentisch. Ich war verblüfft, wie er sich selbst die Geschichte seiner Figur darlegte: Als ich ihn spielen sah - sogar in seinem Schweigen -, sah ich nicht nur die jeweilige
Szene, sondern das ganze Schicksal von Émile. Was Julia Piaton betrifft, so verfolge ich ihre Karriere seit mehreren Jahren. Sie ist eine Schauspielerin, die ich unglaublich finde. Sie hat sich ausgiebig auf die  Rolle der Alice vorbereitet, indem sie viel Zeit mit ihrem Cousin, dem Bürgermeister eines kleinen Dorfes in der Normandie verbrachte, oder mit Amélie, einer Lehrerin aus dem Dorf Le Juch, die mich
ebenfalls inspiriert hat. An Amélies Seite konnte sie sehen, wie man eine einzelne Klasse führt, die Zeit mit den Schülern organisiert usw.


Eine Klasse zusammenzustellen und so viele Kinder zu inszenieren, ist nicht einfach. Wie haben Sie gearbeitet?

MÉLANIE AUFFRET: Es wurden über 500 Kinder gecastet. Es war wichtig, nicht Kinder auszuwählen, die meine Figuren werden sollten, sondern solche zu finden, die es bereits waren. 80 Prozent von ihnen
waren kleine Bretonen, die noch nie geschauspielert hatten. Am schwierigsten zu finden war der junge Darsteller für Eliott. Man merkt, dass er ein kleiner Junge in seiner eigenen Welt ist, dem es schwerfällt, eine Beziehung zu anderen Kindern aufzubauen. Ich wollte, dass er eine Projektion von Émile in seinem Alter ist. Nachdem alle Rollen besetzt waren, ging es daran, diese Schule zum Leben erwecken. Diese Klasse musste real wirken. Da wir während des Schuljahres drehten, führten wir das gleiche Einklassensystem ein wie im Film. Wenn sie nicht drehten, wurden die Kinder von einer echten Lehrerin in der gleichen Umgebung unterrichtet. Dadurch konnten sie sich an den Ort gewöhnen und untereinander eine Gemeinschaft bilden. Die Klassenszenen wurden in chronologischer Reihenfolge
gedreht. Das erste Mal sahen die Kinder Michel an dem Tag, als er sich als Émile dazu entschließt, die Schulbank zu drücken. Sie waren anfangs sehr beeindruckt, im Laufe der Dreharbeiten entstand eine
echte Freundschaft. Die Kamera hat miterlebt, wie diese Verbindungen entstanden sind. Was mich betrifft, so habe ich die Kinder vor dem Dreh viel begleitet, habe in meinen Notizbüchern Details über
jeden Einzelnen festgehalten, um ihre Sprechweise in die Dialoge des Drehbuchs einzubauen.


Die Nebenrollen sind ebenso fein gezeichnet und toll gespielt. Was können Sie darüber sagen?

MÉLANIE AUFFRET: Als ich während der Vorbereitung des Films verschiedene Stadträte besuchte, lernte ich dort eine Reihe sehr inspirierender Menschen kennen. Lionel Abelanski spielt Saturnin, den
Stellvertreter von Alice. Er ist das Gesicht all dieser Bürger, die sich enorm für ihre Gemeinde einsetzen. Er hat oft etwas skurrile Ideen, um die Menschen wieder ins Dorfzentrum zu bringen, ebenso wie die
Figur des Francis, der ein Konzentrat aus mehreren von einer Dorfgemeinschaft gewählten Persönlichkeiten ist, die ich getroffen habe. Der ehemalige Latein- und Griechischlehrer war seit seiner  Pensionierung noch nie so beschäftigt und ist ein Lebemann par excellence. Aber die Realität der Landflucht bringt auch eine gewisse soziale Unsicherheit mit sich, die ich durch die Figur der Lorène
darzustellen versuche: eine alleinerziehende Mutter, die arbeitslos ist. Und letztendlich ist Alices Vater zwar nicht auf der Leinwand zu sehen, spielt aber dennoch eine wichtige Rolle im Film. Er ist die
Verkörperung der Säulen, die verschwinden: er, der sowohl der Bürgermeister als auch der Arzt von Kerguen war. Wie Jeannine, gespielt von Marie-Pierre Casey, in dem Film sagen würde: „Damals gab es
noch einen Arzt!" Jeannine leidet unter ihrer Einsamkeit, wie viele ältere Menschen, deren Vereinsamung manchmal unvermeidlich ist. Der Bürgermeister ist für diese Menschen eine unverzichtbare Figur, ein echter Kitt für soziale Bindungen.


Das Thema, sein Leben nur innerhalb eines gewissen Radius‘ leben zu können, kommt mehrmals zur Sprache. Was können Sie uns dazu sagen?

MÉLANIE AUFFRET: Menschen mit Analphabetismus behelfen sich oft durch eine gewisse lokale Begrenzung. Sie wagen sich nicht nach außen, denn sie gehen ein Risiko ein, wenn sie ihren bekannten
Bereich verlassen. Dies ist übrigens eine Gemeinsamkeit zwischen Alice und Émile. Émile ist in dieser Begrenzung gefangen, während Alice sich selbst auferlegt, darin zu leben. Gemeinsam öffnen sie die
Grenzen und entdecken neue Horizonte. Ich fand, dass es eine starke Dynamik ist, die es zu erzählen galt, und eine echte Herausforderung, sie in Bilder umzusetzen.


Wo haben Sie gedreht?

MÉLANIE AUFFRET: Wir haben ein richtiges Casting für bretonische Dörfer anberaumt und dabei fast 80 Dörfer besucht. Le Juch hat sich wie von selbst ergeben. Es ist ein Theater unter freiem Himmel, das
genau das widerspiegelt, was ich erzählen wollte. Mich hat der Kontrast gepackt zwischen der Schönheit seiner Gassen, seines Grüns und seiner Gebäude und der sozialen und wirtschaftlichen
Realität, von der es betroffen ist: Es ist ein Dorf am seidenen Faden, das jeden Tag darum kämpft, seinen sozialen Zusammenhalt und seine Attraktivität zu erhalten. In Le Juch gab es an die zehn Bistros,
zwei Metzgereien, zwei Bäckereien. Auch gab es dort einen bewundernswerten Bürgermeister, der dafür kämpfte, damit seine Schule geöffnet blieb. Ich bin froh, dass die Realität die Fiktion manchmal
einholt. Das Rathaus im Film ist nämlich ein Gebäude, das seit fast 25 Jahren verlassen dastand. Dank der Dreharbeiten hat Le Juch von einer umfangreichen medialen Berichterstattung profitiert, und
dieses Gebäude wurde unlängst zurückgekauft, um wieder eine Bar zu werden!