eidinger 1LICHTER Filmfest Frankfurt International: von Dienstag, 16. April bis Sonntag, 21. April, Teil 12

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Kein Wunder, daß der deutsche Film STERBEN, der erst am kommenden Donnerstag, 25. April, in den Kinos anläuft, sofort ausverkauft war. Das ist eine Wucht von einem Film und wenn dann noch Regisseur Matthias Glasner und Hauptdarsteller Lars Eidinger persönlich anwesend sind, sollte jeder eine Kinokarte zu erwerben versuchen. Ja, 183 Minuten Film sind lange, aber sie merken es nicht, so zieht sie der Film ins Familiengeschehen hinein.

Das ist ein Film wie ein ganzer Kontinent, den man inhaltlich nicht in Kürze zusammenfassen kann und auch nicht sollte. Greifen wir die Szene in der Mitte des Drei-Stunden-Filmes heraus, wo in einem gnadenlosen Gespräch, das ganz zivil daherkommt, Mutter Lissy Lunies, Mitte Siebzig, ihrem Sohn Tom eröffnet, daß sie ihn noch nie leiden konnte, er außerdem ein Unfall war, kein Wunschkind, was er immer gewußt hat und mit denselben abweisenden und kalten Gefühlen seiner Mutter gegenüber ein Leben lang beantwortet hat. Er kann sie nicht leiden, fühlt nichts für sie, wohl aber für den Vater, dem er liebevoll begegnet.

Zuvor hatte Lissy noch ihrem Sohn gebeichtet, daß sie immer froh war, daß er sich normal entwickelte, denn sie befürchtete stets, daß ihr mehrfaches Fallenlassen des Schreibabys, das sie nicht mehr ertrug, bei ihm zu Hirnschädigungen oder anderen Schäden geführt hätte haben können. Er kann das nicht fassen. Sie hat ihn extra fallengelassen? Nein, korrigiert sie sich dann lieber, er ist halt runtergefallen. Dabei ist sie wahrscheinlich nicht mal eine böse Mutter, denn zur Tochter sei sie immer sehr lieb gewesen, die sei so zart und verletzlich gewesen.

Doch die Tochter bleibt erst mal eine Leerstelle, denn sie taucht vorerst nicht auf, während der sieche Vater ins Heim abgeschoben wird, wo er bald stirbt. Sohn Tom, der als Dirigent gerade mit seinem Freund, dem Komponisten.Bernard (Robert Gwisdek), dessen Komposition mit einem Jugendorchester probt, hat eigentlich anderes zu tun, kommt aber aus Berlin erst den Vater besuchen, dann zu dessen Beerdigung in einen Freiwald, wo er erst eintrifft, als alles vorbei ist und Tom in einer denkwürdigen Szene seiner Mutter die Hand zur Begrüßung reicht. Umarmen, Körperkontakt ist hier nicht. Allein diese Geste sagt das Entscheidende über den Film aus. Hier handelt es sich gar nicht um eine echte Familie, sie existiert nur im formalen Sinn. Regisseur Matthias Glasner wird im Pressegespräch sagen, daß er nach dem Tod der Eltern (in Wahrheit nur den der Mutter) über seine eigene Familie, über Kindheit und Aufwachsen reflektierte und er selbst im Film in vielen Rollen vorkomme, also nicht nur Tom ist, sondern auch in der Tochter steckt. Denn Ellen ist als Zahnarzthelferin zwar in einem bürgerlichen Beruf tätig, aber sie ist Alkoholikerin und braucht den Rausch und zu beidem einen Mann. Lilith Stangenberg macht das zusammen mit Ronald Zehrfeld, der einen Zahnarzt spielt, der ihr verfällt, deutlich sichtbar, auch daß sie nirgends Halt gefunden hat und auch nicht erstaunt ist, als sich ihr Liebhaber als verheirateter Ehemann mit schwangerer Frau bald wieder von ihr verabschiedet.

Der Vater ist also tot und die Mutter eröffnet ihrem Sohn, daß sie auch bald sterben wird, denn sie hat sowieso Diabetes und gerade ist Krebs, Nierenversagen und beginnende Blindheit diagnostiziert worden. Folgerichtig stirbt sie auch noch. Doch der Titel des Films STERBEN ist der Komposition gleichen Namens gewidmet, die das Lebenswerk des depressiven Komponisten und Freund Toms, Bernard, werden sollte. Doch bei der lange geprobten Uraufführung, die Eidinger ls Dirigent sehr gut meistert, nachdem er sich fachlich vor allem an Currentzis orientierte, fällt Ellen aus der Rolle, bekommt einen Hustenanfall, der sie nicht motiviert, den Saal zu verlassen, sondern der in einer Kotzorgie mündet. Das versteht man nicht ganz, wie überhaupt manches Mal Klamauk auf der Leinwand die Sicht auf einen unglaublich intensiven Film verstellt, der mit hervorragenden Schauspielern einen drei Stunden lang in Bann schlägt.

Von Lars Eidinger als Tom ist noch kaum gesprochen worden. Er, sein Gesicht, das meist nachdenklich, ja traurig ist, mit schwimmenden Augen und zuckenden Mundwinkeln, trägt den ganzen Film. Er ist ein guter Mensch, findet man. Er hatte mit Freundin Liv (Anna Bederke), die gegen seinen Willen ein gemeinsames Kind abgetrieben hatte, eigentlich unfruchtbar wurde, dann mit einem anderen Mann, den sie aber als Partner ablehnt, gerade ein Kind bekommt, als dessen Vater sich Tom fühlt, wie es auch in seinen mündlichen Aussagen, er habe gerade ein Kind bekommen, deutlich wird. Er kümmert sich auch darum und hieß es früher, die Väter seien abwesend, so gibt es jetzt gerade zwei, die sich fast darum schlagen, wer sich mehr mit dem Kind beschäftigen darf. Die Rolle der Mutter Liv bleibt etwas vage, sie neigt Tom zu, hält ihn dann wieder auf Abstand, schlafen tut er sowieso so nebenbei mit seiner Assistentin, die dann auch so ganz nebenbei von ihm ein Kind bekommt, das er am Schluß auf dem Arm hält.

Wir sehen dem ganz normalen Wahnsinn zu, wo Menschen sich teils gegen ihre eigentlichen Interessen verhalten, aber aus ihrem Zwangsverhalten nicht herausfinden.

Die Geschichte wird in Episoden erzählt, die aber nur als Zwischentitel erscheinen und nach den Eltern erst Tom zum Thema haben, dann über Ellen und am Schluß vom STERBEN erzählen, womit erst einmal die Komposition gemeint ist, die – ein großes Gut – im Film den Raum erhält, den Musik braucht. Es ist wunderbar, wie wir dem Einstudieren des Werkes mit dem Orchester und erst einmal auch dem Chor lauschen dürfen. Da nehme ich auch gerne drei Stunden in Kauf, wenn endlich einmal Musik in einem Spielfilm so viel Raum erhält wie hier. Dem Komponisten jedoch langt diese Aufführung nicht, er schreibt eine neue Fassung und bittet zum Weihnachtsabend Freund Tom zu sich in sein Einsiedler-Komponistenhäuschen. Er hat eine große Bitte an ihn. Er möchte sterben, hat alles vorbereitet und bittet Tom nun, dafür zu sorgen, daß die Cellistin, mit der er bandelt, ihn nicht mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne vorfindet, Er hat einen Brief mit Testament und allem hinterlassen. Tom läßt ihn gewähren. Eine schwierige Entscheidung, die wir jetzt nicht kommentieren , sondern hinweisen wollen, daß sich, wer diesen Film nicht anschaut, um viel in seinem Leben bringen wird.

Foto:
©Verleih

Info:
Stab

Regie Matthias Glasner
Buch Matthias Glasner
Kamera Jakub Bejnarowicz

Besetzung
Lars Eidinger (Tom Lunies)
Corinna Harfouch (Lissy Lunies)
Lilith Stangenberg (Ellen Lunies)
Ronald Zehrfeld (Sebastian Vogel)
Robert Gwisdek (Bernard)
Anna Bederke (Liv)
Hans-Uwe Bauer (Gerd Lunies)
Saskia Rosendahl (Ronja)