Wer bekommt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 62. Berlinale vom 9. bis 19. 2. 2012, 3/25

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) –Zuallererst ist dieser Film ein Zeichen für das Trauma, das der 11. September 2001 in Amerika bis heute auslöst, was eigentlich für die ganze westliche Weltgilt. Im Rückblick auf die intensiven Erziehungsszenen von Vater (Tom Hanks) und Sohn  (Thomas Horn), gedenkt der neunjährige Oskar Schell nicht nur des umgekommenen Vaters mit Liebe und Trauer, sondern findet durch die Aufarbeitung eines Geheimnisses und die Überwindung tief in ihm sitzender Ängste auch seinen Frieden mit der Situation und vor allem mit der Mutter (Sandra Bullock).

 

Der Film folgt der Romanvorlage ALLES IST ERLEUCHTET von Jonathan Safran Foer, fokussiert aber den Inhalt auf den Jungen, aus dessen Perspektive der Film nun die Geschehnisse erzählt: Vater Thomas Schell, die Familie ist aus Dresden und hat die Nationalsozialisten überlebet, hat seine wissenschaftlichen Interessen nicht verwirklichen dürfen, sondern ernährt die Familie- und das nicht schlecht – als Juwelier mit eigenem Geschäft in Manhattan.

 

Mitten in das Glück der Familie, in der die intelligente, fachliche und psychoanalytische Erziehungsarbeit  des Vaters einem Bewunderung abnötigt – der Sohn Oskar ist nicht nur extrem neurotisch und ein Angstbündel, sondern hochintelligent und dadurch mit seinem Selbstbezug eine Nervensäge („Warum bist Du nicht in der Schule?“ – „Weil ich schon zuviel weiß“), hält sich der Vater in den Türmen auf, als diese am 9.11.2001 zusammenfallen und die Menschen in den Tod reißen.

 

Das fällt übrigens auf, daß es schon wieder ein Junge ist, der sich und uns die Welt erklären muß, wo doch an diesem Donnerstag gerade Hugo Cabret und Der Junge mit dem Fahrrad angelaufen sind. Allerdings sind diese Jungens auch alle ausgezeichnete Schauspieler und dieser Oskar hat zwar keine Trommel, aber ist genauso unerbittlich wie der gleichnamige Blechtrommler. Die Aufgabe, die Unwirtlichkeit unserer Städte an den krankmachenden Geräuschen, nicht nur an der Lautstärke, sondern an der Konsistenz dieses Lärms sinnlich erfahrbar zu machen, leistet dieser Film wie wenige. Wenn also dieser Knabe Angst hat, Brücken zu überqueren und in U-Bahn-Schächte zu steigen, ist er eigentlich sehr vernünftig und wir sind die, die Dreck und Lärm dauernd ertragen zu müssen meinen.

 

So ist die Charakteranlage dieses Jungen eine mehrschichtige, die gebündelt wird durch ein Vorhaben, seinen toten Vater für sich lebendig zu erhalten. Das tut er, indem er die naturwissenschaftlich orientierten Such- und Versteckspiele beider auf seine jetzige Situation überträgt, als ihm im Wandschrank des Vaters eine Vase herunterfällt, in der ein Briefumschlag mit einem Schlüssel und der Aufschrift Black liegt. Hier gewinnt der Film nun Fahrt, weil der Junge höchst phantasievoll und systematisch gleichermaßen sich auf die Suche nach dem dazugehörigen Schloß und Leuten namens Black macht, von denen es in New York 427 gibt.

 

Das ist also längst ein Krimi geworden, zumindest ein Abenteuerfilm, der zu den komischsten Situationen führt und auch innerhalb der Familie mit einer rührigen Oma und ihrem Mieter, die gegenüberwohnen und mit der er sich per Funk verständigt, so komische wie berührende Facetten entwickelt. Den Mieter, der im gewissen Sinne jetzt die Vaterrolle übernimmt,  identifiziert Oskar schon bald als seinen Großvater, er zuckt genauso mit den Schultern wie sein toter Vater Thomas. Max von Sydow spielt diesen Alten hinreißend, wozu ihm die Rolle, in der er stumm bleiben muß und sich nur per Zettel verständigt, auch allen Anlaß bietet.

 

Die Suche des Jungen nach dem Schloß zum aufgefundenen Schlüssel ist eine Metapher, denn methodisch verstanden bedeutet dies, daß damit der Schlüssel zum Weiterleben durch Trauerarbeit gefunden ist. Obwohl alles dann ganz anders ist, tritt diese Absicht ein. Der Junge überlebt psychisch und ist stärker geworden. Bis zum letzten Viertel des 129Minuten langen Films, fanden wir ihn äußerst gelungen. Dann tritt in unseren Augen eine Verkleisterung durch einen Überzug von heiler Welt ein, der nicht nötig wäre.

 

Längst hat der Zuschauer begriffen, daß sich Oskar selbst geheilt hat und mit diesem Trauerprozeß auch schon einige seiner substantiellen Probleme behoben hat, so daß jeder eine positive Zukunftsprognose abgeben täte. Diese wird aber nun in extenso auch noch im Film ausgebreitet: Oma erhält ihren Ehemann zurück, die schon geschiedenen Blacks lieben sich wieder, der Sohn schließt sich seiner Mutter wieder an, liebt sie, nachdem diese ihn in Liebe überwacht hatte. Nein, das ist alles zuviel. Da hätten Andeutungen mehr bedeutet. Ein Leben nach den Türmen muß nicht die heile Welt suggerieren. Die gibt es nämlich nicht Aber es gibt Jungen, die sich heilen.