Wer bekommt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 62. Berlinale vom 9. bis 19. 2. 2012, 5/25

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) –Vielleicht sollte man nicht gleich bei der fünften Pressevorführung einen Film für den Goldenen Bären vorschlagen, sondern die anderen abwarten, aber, was man sagen kann, ist, daß die italienischen Brüder Paolo und Vittorio Taviani - wieder einmal – ein Meisterwerk abgeliefert haben.

 

Und wie immer bei richtig guten Filmen, muß man wenig Worte machen. Dann nämlich ist ein Film richtig gelungen, wenn einem beim Anschauen schon alles klar wird, wie die Dinge zusammenhängen, warum dieser Film wohl gedreht wurde. Also: da gibt es ein modernes Gefängnis, gleichwohl hat es den Hochsicherheitstrakt für die Lebenslänglichen, die Mörder, Vergewaltiger, Totschläger. Das Moderne an der römischen Strafanstalt Rebibbia ist u.a., daß es das Angebot zum Theaterspielens für alle Häftlinge gibt.

 

So fallen wir mitten in den Film hinein und er in uns, indem ein Theaterregisseur – gespielt von Fabio Cavalli – Probesprechen läßt. Alle müssen sich der Reihe nach vorstellen,  ihren Namen und ihre Herkunft in ihrer Muttersprache, also dialektgebunden vortragen. Auch im Stück sprechen sie Shakespeare in ihrem jeweils heimatlichen Dialekt. Das Besondere an der Vorstellung ist, daß sie es einmal verhalten, leise, weinend tun und ein zweites Mal, ohne Übergang, laut, schreiend, böse, einfach aggressiv mit verzerrten Gesichtern. Jedem Zuschauer wird schlagartig klar, welch therapeutische Wirkung allein darin schon liegt.

 

Der Anspruch dieses Films geht über solche psychologischen Selbstverständlichkeiten weit hinaus. So richtig beginnt er – und endet auch wieder - mit dem Ende, dem Schlußapplaus für die Strafgefangenen, die JULIUS CÄSAR von Shakespeare aufgeführt haben, nach Meinung des Publikums auf der Leinwand: grandios, was der Kinozuschauer bestätigt.. Wir sehen, wie die Gefangenen wieder in ihre Zellen zurückkehren, nachdem ein halbes Jahr für diese Premiere geprobt wurde und nun einer der Gefangenen sagt: „Seit ich der Kunst begegnet bin, ist diese Zelle für mich ein Gefängnis geworden.“

 

Das  eigentliche Wunder dieses Films ergibt sich aber beim Aufeinandertreffen der Shakespeareschen Sätze und Handlungen mit den Lebensläufen und Charakteren der Schauspieler/Strafgefangenen. Macht, Männerbündnisse, Freundschaft, Kumpanei, Betrug, Lüge, Verrat und Gewalt, also Mord und Totschlag kommen im Alten Rom via Shakespeare im gleichen Ausmaß vor wie in den mafiösen Strukturen Italiens – natürlich nicht nur da, aber da besonders. Das wird aber nicht mit Worten erzählt, sondern ergibt sich beim Zuschauen, wo man den Text des Stückes sich mehr und mehr reinzieht – und Shakespeares Sprachgewalt und theatralisches Handeln bewundert - und willig den Aufführenden folgt, deren Spannung, Leidenschaft und Sichhineinfühlen in ihre Rolle die Leinwand zum Kochen bringt.

 

Der Film ist dadurch ungeheuer spannend, er vibriert. Interessant auch die technische Aufnahmelösung, daß nur die offizielle Theateraufführung im Film in Farbe erscheint, ansonsten alles in Schwarzweiß gedreht ist. Das paßt nicht nur zum Gefängnis und den teilweise finsteren Gestalten – man hält sie allesamt sofort für antike Römer - , sondern dieses Schwarz und Weiß hat auch viel mit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun, wo nach Bert Brecht die einen im Licht stehen, man die im Dunkeln aber nicht sieht. Die einen sind im Gefängnis gelandet, ein anderer Teil läuft frei herum.

 

Der Film enthält sich aber aller Wertungen, er führt nur vor und überläßt die Interpretationen den Zuschauern. In Berlin bei der Pressevorführung war einer der Schauspieler, eine der Hauptfiguren anwesend: Salvatore Striano als Brutus. Er hat nach 8 Jahren seine Strafe verbüßt und arbeitet jetzt als Schauspieler. Sein Brutus spricht dem rhetorischen Kunstgriff des Antonius „Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann“ Hohn. Aber ist das nicht genauso mit der „Ehrenwerten Gesellschaft“, der Mafia. Das aber ist nur ein Zipfel der Erkenntnisse, die man nach diesem Film nach Hause mitnimmt, ein Film, in dem es nur Männer gibt und doch die ganze Welt enthalten ist.