Filme in deutschen Kinos vom 25. Juni 2015, Teil 3

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Uns gefällt in diesem Film, dessen Titel ja mehrdeutig ist, wie man erst einmal als Zuschauer nicht weiß, was das alles soll. Man sieht ein Mädchen, eine junge Frau, die auf einem Dach, einem Gerüst steht und ihre Füße Richtung Abgrund stellt, zurückweicht, erneut heraustritt. Will sie herunterspringen?

 

Auf einmal spürt man das Willkürliche daran und entscheidet: sie sucht den Kitzel. Das ist es, was sie braucht.Unsicher scheint die Namenlose (Sina Ebel) zu Hause – und dann, aufgebretzelt, flirtet sie auf Teufel komm raus in einem Lokal und sieht mindestens zehn Jahre älter aus. Das wiederholt sich und allmählich begreift der Zuschauer, daß er hier mit der Heldin in ihr Leben eintaucht, das nicht linear erzählt wird, weil es das für sie wohl auch gar nicht gibt, sondern in dem die Episoden mit drei Männern jeweils ineinandergeschachtelt werden, weil unabhängig davon, daß es sich um drei völlig unterschiedliche Männer (Rupert J. Seidl, Albert Bork und Alexander Steindorf) in unterschiedlichen Positionen handelt, das Verhalten des Mädchens immer das gleiche ist: Anziehung, dann Abstoßung.

 

Die Männer sind alle älter und sie zeigt Fleisch. Zwar redet sie auch, aber es sind eher ihre Blicke, mit denen sie diese Männer in der Öffentlichkeit einer Kneipe, eines Restaurants derart provoziert, bis auch der Tumbste merkt, daß er gemeint ist und reagiert. Meist gehört dazu ja auch nicht viel, denn diese Männer, das sieht man, warten auf so etwas. Und Alkohol spielt zumindest zweimal auch eine Hauptrolle. Sicher schwierig zu spielen, denken wir uns – andererseits machen Extreme Lust. Wenigstens für die Schauspielerin, denn sie kann alle Register ziehen. Und Sina Ebel ist herrlich wandlungsfähig. Mal das kleine verdruckste Mädchen, mal die ordinäre Sirene, mal häßlich und kariert, mal sinnlich und einfach schön.

 

Also Lust beim Spielen solcher Gegensätzlichkeiten, aber wie sieht es mit dem widersprüchlichen Leben der Protagonistin aus, die sie spielt. Traurig. Das merken wir schnell. Denn die ständige Wiederholung von Anziehung und Abstoßung, von Hoch und Tief, von Zuwendung und Distanz macht ja jeden Ansatz von Verständigung mit einem anderen Menschen kaputt, von einem Liebesverhältnis ganz zu schweigen. Dabei ist es das, was sie will. Sie sucht Halt und sobald sie einen fühlt, vernichtet sie diesen und damit nicht nur das Pflänzchen einer Beziehung, sondern immer sich selbst.

 

Das ist ein Krankheitsbild, das man aus psychiatrischen Studien kennt. Aber interessanterweise lassen das die beiden Filmemacher, Nadine Heinze und Marc Dietschreit, in ihrem ersten Spielfilm nach einigen Dokumentarfilmen, völlig offen. Daß es sich im weiten Sinne um eine sogenannte Borderlinestörung handelt, ist offensichtlich. Aber darum geht es gar nicht. Es wird eben nicht ein Krankenbild vorgeführt und auch keine Krankengeschichte erzählt, also auch nicht über die Probleme dieser jungen Frau räsoniert oder biographisch nachgeforscht, sondern die Leinwand ist allein zum Zeigen da, wie diese Frau lebt und auf Männerfang geht, woraus die Zuschauerin schließt, daß diese Frau darin für sich etwas Wesentliches sucht.

 

Dabei und das ist dann schon interessant, ist zwar das Ziel jeweils das Gleiche – einen Mann abzuschleppen und ihn dazu zu bringen, daß er sie in sein Zuhause mitnimmt, was dann besonders dramatisch wird, wenn er eigentlich verheiratet ist - , aber ihre Geschlechtertaktik völlig unterschiedlich, wie ihr das nämlich gelingt. Dabei macht sie sich jeweils völlig unterschiedlich zurecht. Mal als, wie schon gesagt, ordinärer Vamp, mal auf kleines Mädchen, mal auf 'normal'. Da sie weiß, was sie will, ähneln sich alle Anbahnungsphasen, in denen, wie schon ausgeführt, eine Geschichte von Blicken erzählt werden könnte. Kaum fühlen sich beide in den Wohnungen der Männer – stimmt nicht, mit dem einen übernachtet sie als 'Tochter' in zwei Zimmern im Hotel - wohl, schaltet sie von einer auf die andere Sekunde um, beleidigt die jeweiligen Typen genau mit dem, was für sie am schlimmsten wäre, als Vielfraß, als Kleinbürger, als Impotenten, als Langweiler, als..... Gnadenlos und rattenscharf.

 

Und dieses Auseinandernehmen von Männern in einer Situation, in der die sich auf ein erotisch-sexuelles Abenteuer eingestimmt haben, hat schon etwas Brutales, was gleichzeitig von ihr systematisch betrieben, also immer stärker und wortgewaltiger inszeniert wird. Das sind im übrigen gefährliche Situationen, in die sich die junge Frau bringt und wo sie der Vergewaltigung oder Schlimmerem nur durch aus dem Fenster Springen (Parterre!) und anderem entgeht.

 

Bleibt das kleine Mädchen übrig. Denn eigentlich werden vier mißglückte Beziehungen vorgeführt. Und hier ist es die junge Frau, die unbedingt mit dem vielleicht zehnjährigen Mädchen Kontakt haben will, mit ihr spielen, mit ihr wegfahren etc. möchte. Und obwohl sie sich auf die Wünsche der Kleinen einläßt, merkt die, viel eher als jeder der Männer im Geschlechterspiel oder auch Geschlechterkrampf, daß hier etwas nicht stimmt, daß sie eingefangen und manipuliert werden soll. Und das kleine Ding ist die einzige in dem Film, die sagt: Ich möchte nicht. Ich möchte nicht mit Dir zusammen sein. Ich möchte mit Dir nichts machen. Ob gerade dies eine Hoffnung für die junge Frau ist, daß sie nicht manipulieren kann, ihr Verhalten nicht jemandem aufzwingen kann – und gerade deshalb um so eindringlicher um das Kind buhlt. Wir wissen es nicht. Der Film ist aus.

 

Der Filmtitel: DAS FEHLENDE GRAU wird nicht explizit erklärt, ergibt sich aber aus der Charakterstudie der jungen Frau, die nur Extreme kennt, aber keine Verhaltensmöglichkeiten dazwischen.