Die Wettbewerbsfilme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Film 7

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – Als dann die Darsteller von patriachalischem Großvater und aufbegehrendem Enkel, Temuera Morrison und Akuhata Keefe, auf dem Podium der dem Film nachfolgenden Pressekonferenz den Haka-Tanz der Maori Neuseelands boten, da war kein Halten mehr. Das war sozusagen das Ausrufezeichen für ein bewegendes Filmereignis, wie es Regisseur Lee Tamahori in dieser Geschichte der Familie Mahana in 103 Minuten preßte.

 

Konnte man lange beim Zuschauen noch davon ausgehen, daß die inzwischen verzweigte Sippe der Mahanas durch Erzählen der offiziellen Familiensaga interessanten Stoff für ein Epos um die Maoris von heute auf Neuseeland ergäbe, so brachte plötzlich ein Ereignis aus der Familiengeschichte eine derartige Dynamik ins Geschehen, daß der Stein, den das ins Rollen brachte, in einem noch immer weiterrollt. Man kann gar nicht anders, als sich fragen, wie man selbst in einer solchen Situation gehandelt hätte, die zu den extremsten gehört, die man sich vorstellen kann.

 

Aber zuerst die allgemeine Situationsbeschreibung, die in den Sechziger Jahren spielt. Großvater Tamihana hat sich mit seinen vielen Söhnen zu einer Institution im Schafescheren emporgearbeitet, wobei seine Konkurrenten die Poatas sind, die die Mahanas ebenso hassen wie diese sie. Einen der Söhne hat das Familienoberhaupt sozusagen verstoßen, er lebt mit Familie auf dem Land seiner Mutter Ramona (Nancy Brunning, die als Maori wertvolle kulturgeschichtliche Beiräge auf dem Podium brachte) und stellt beim jährlichen Schafschurwettbewerb seine eigene Mannschaft auf: Mahana 2, die dann sogar als beste Mannschaft gewinnt, während Einzelsieger einer der Poatas wird.

 

Doch das ist nur dramaturgischer Hintergrund für das eigentliche Geschehen, das einem Roman von Witi Ihimaera folgt, dem die Ohren in Neuseeland geklingelt haben müssen, so oft wurde sein Name auf der Pressekonferenz genannt. Er ist der Maoriexperte, der die Traditionen des indigenen Volkes auf Papier zwingt, wo sie neues Leben entwickeln und jetzt auf die Leinwand übergreifen.

 

Nachdem wir also erst einmal über die Familie und ihre typischen Familienkonflikte aufgeklärt wurden, erleben wir den aufbegehrenden Simeon, 14jähriger Sohn des vom Großvater verstoßenen Sohnes, der rotzfrech und mutig das Schweigen in der Familie bricht und bei seinen juvenilen Trotzreaktionen immer wieder eins auf die Mütze bekommt, aber weitermacht und seine Eltern zum klaren Parolibieten gegenüber dem tyrannischen Großvater zwingt. Wie gesagt, das ist alles sehr gut gemachte westernhafte Folklore, bei der man eine Menge übers Schafescheren lernt und auch sonst seinen Spaß hat.

 

Und dann platzt die Bombe und erklärt auch für Zuschauer und die Sippe Mahana endlich wahrheitskonform, warum die Familienfehde gegnüber den Poatas besteht. Bisher war die Familiensaga eine tief romantische, daß nämlich der Großvater auf einem Pferd reitend zur Hochzeitsgesellschaft gestoße sei, wo gerade Ramona mit einem ihr nicht genehmen Poata verheiratet werden sollte, er sie ergriffen habe, sie sich aufs Pferd zu ihm hochgeschwungen habe (eben das Westernhafte) und mit ihm davon geritten sei, was zum Ritt ins gemeinsame Leben wurde. Doch diese Legende bricht zusammen, als Ramona ihrem Enkel die Wahrheit sagt, daß nämlich sie, die diesen Poata liebte, der für sie schon ein Haus gebaut habe, daß sie vom Großvater Haus in ihrem eigenen vergewaltigt worden sei, dies zur Schwangerschaft und dem ältesten Sohn geführt habe, weshalb sie ohne Liebe Tamihana geheiratet habe und jedes der weitern vier Kinder sie an den ungeliebten Mann noch stärker gebunden habe, wo ihr Herz doch bis heute für den geliebten Poata schlage. Es langt nicht, diese Worte aufzuschreiben, man müßte das ausdrucksvolle Gesicht von Nancy Brunning dazusetzen, denn sie gibt dieser Frau, die zwischen Kindesliebe und Liebe zum eigentlichen und ihr versprochenen Mann hin- und hergerissen sich für die Loyalität zu ihrem Vergewaltiger und Ehemann entschieden hatte, eine eindrucksvolle Statur.

 

Das erzählt sie ihrem Enkel, in dem sie das Feuer ihres Ehemanns erkennt. Daß der Großvater, der blendend aussieht, auf einmal Krebs hat und stirbt, ist ein bißchen durchsichtig, aber das braucht das Drehbuch, damit das Geheimnis, das bisher nur die Großmutter und Simeon teilten, für die ganze Familie durchsichtig wird. Simeon war nämlich beim Großvater, als dieser nach der Bibel verlangte, in der ein Blatt Papier die Wahrheit über seine Ehe in Form eines Vertrages enthielt, dernach Ramona alle Pflichten der Ehefrau erfüllt und nach dem Tode des Mannes frei sei. Er übergibt dieses Blatt Simeon und ist tot.

 

Dann kommt es bei der Beerdigung des Familientyrannen auch zu solcher oben erwähnten Haka-Einlage, als nämlich der Clan der Poatas obszöne Beschimpfungen gegen den Toten mit entsprechenden Gesten und Mimik vorbringt, woraufhin der Mahanaclan erst mit Gewalt reagieren will, Simeon seine Großfamilie dann aber über die Hintergründe aufklärt und sich Ramona und ihr geliebter Poata zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten berühren und über die Unverbrüchlichkeit ihrer Gefühle, nämlich ihrer Liebe versichern. Da bleibt kein Auge trocken, aber nicht, weil es so rührselig wäre, sondern weil man einen Moment im Kino konfrontiert ist damit, wie ein einziges Vorkommnis das ganze Leben umdreht, in eine andere als die gewünschte Richtung bringt, daraus kein Entkommen ist und zum Lebensende hin wieder ins Lot kommt. Gänsehaut.

 

Was jetzt viel zu kurz kam, sind die im Film nur im Handlungsgefüge aufscheinenden gesellschaftlichen Hintergründe der Maori, die eine Mutterkultur sind, weshalb Ramona auch den eigenen Landbesitz hatte, den sie dem, vom Vater verstoßenen Sohn zu Lebzeiten übereignet hatte. Daß sie Simeon zum Mittler macht, ihm das furchtbare Geheimnis anvertraut, sie, die doch bisher eisern geschwiegen hatte, brachte das Geschehen ins Rollen und auch das Zusammenleben mit den Poatas auf eine neue nachbarschaftliche Grundlage. Simeon nun wieder stellt die neue Generation dar. Er geht zur Schule, soll studieren, ist gebildet, auch das ein Aspekt für das neue Leben der Maori in Neuseeland. Ein überraschendes und starkes Filmerlebnis.

 

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