Warum Amok 02Theaterregisseurin holt Wirtschaftswunderfilm in die Gegenwart / Kulturdebatte in Frankfurt

Oliver Kalldewey

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Kultur unter Corona-Bedingungen? Schwierig, die Veranstaltungen sind selten – doch die seltenen haben es in sich: Film, Theater und Diskussion präsentierte das artes Forum in Frankfurt. Regisseurin Leonie Thies im Gespräch mit Moderator Peter Menne.

Gezeigt wurden der Film „Warum läuft Herr R. Amok?“ von Michael Fengler und Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1970 sowie Szenen der Theaterinszenierung, die Leonie Thies letztes Jahr in Mannheim auf die Bühne brachte. Mit Peter Menne sprach sie über die Aktualität des Stückes, ihre künstlerischen Mittel – und wie sie mit Ironie die Schwermut des Stoffes bricht. Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum weiteten den Rahmen aus.

Warum Amok 04Der Film zeigt eine ganz normale Familie der Wirtschaftswundergesellschaft: Herr R. hat einen Job als technischer Zeichner; eine Frau, die ihn mit dem Auto abholt;einen Sohn und Eltern, die sich auch mal den „Othello“ in der Oper ansehen. Alles bestens in der besten aller möglichen Welten? Wenn da diese Sprachlosigkeit nicht wäre: Frau R. redet ebenso intensiv mit der Nachbarin wie der Schwiegermutter – und ihr Gatte steht schweigend daneben. Die todschicken Ski-Anzüge begeistern ihn ebensowenig das hübsche Kleid, dass Mama für die Oper angezogen hat (deren Handlung an ihr vorübergezogen ist). Fragen danach, wie es in der Firma läuft, beantwortet Herr R. nicht, Fragen nach der nächsten Beförderung auch nicht. Das Leben der anderen zieht an ihm vorüber – bis er ausrastet.

Keine lang geplante Tat wie beim Columbine-Schulmassaker, sondern eine spontane Verzweiflungstat. Der Film bettet das in trübe, graue Dezember-Bilder ein. Moderator Menne erläuterte einführend, dass Fassbinder die Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre portraitiert hat – nein, nicht die Gesellschaft: mit scharfem Blick rückt er die Schattenseiten des Wirtschaftswunders ins Zentrum.

Den Text hat Leonie Thies aufgegriffen, doch auf der Bühne sieht das Stück ganz anders aus: drei Szenen ihrer Inszenierung zeigt sie – und erläutert im Gespräch mit Peter Menne, was ihr wichtig ist. „Wie kann ich die Absurdität des Alltäglichen darstellen?“, fragte sie sich – und hat die Kulisse stark reduziert: ein Setzkasten, in dem manchmal auch die Schauspieler agieren, der ansonsten aber voller Gartenzwerge steckt: Symbol der Spießbürgerlichkeit. Thies will nicht naturalistisch inszenieren. Das wird an den Bewegungen ihrer Schauspieler deutlich: sie laufen gestelzt, bewegen sich unnatürlich – zu klar gesprochenem Text (was sich wohltuend vom Film abhebt, in dem nur zu oft unverständlich genuschelt wird).

Thies geht es um das Verhältnis Individuum – Gesellschaft: wie geht Herr R. mit den Rollenerwartungen seiner Umwelt um? Manch‘ oberflächliches Getratsche findet sich auch heute, doch wie sich Rollen und Erwartungen in der Familie verändert haben, wurde auf dem Podium nur sehr knapp angerissen: während die Schwiegermutter vor Warum Amok 01Weihnachten arbeiten geht, um ihrem Mann ein Geschenk von selbstverdientem Geld machen zu können, steht für Frau R. fest, dass der Mann das Geld alleine verdienen muß. Menne merkte an, dass so ein Lebensentwurf dank Frauenbewegung deutlich seltener geworden ist und Thies stimmte zu: die Passage habe sie abgeschwächt. Ganz deutlich herausgearbeitet hat sie hingegen die Hierarchien im Büro: im Film kritisiert der Chef Herrn R. im Zwiegespräch – auf der Bühne agiert er wie ein Zuchtmeister, der militärischen Drill verabreicht. Den Kern der Beziehungen arbeitet sie über diese ästhetisierte Darstellung deutlich heraus.

Wirken manche Szenen ironisch überzeichnet? Dem widersprach eine Zuschauerin in der Diskussion. Das Gespräch Thies – Menne verlief so lebendig, dass ich gerne noch länger gelauscht hätte. Doch das Programm füllte über drei Stunden, und kurz nach 22 Uhr mußte die Regisseurin zum Zug... Selbst wenn man in einer weiteren halben Stunde aktuelle Bezüge hätte asubauen können, will ich nicht klagen: denn der Abend war mit spannenden Themen gut gesättigt – die man vor Corona bei einem anschließendem Glas Wein vertieft hätte. Doch dank Frankfurter Sperrstunde waren die Kneipen zu schnell geschlossen.

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