Bildschirmfoto 2021 11 13 um 07.04.51Das Kunsthaus Zürich wird zum Symptom einer moralisch korrupten Zürcher Regierung und der Unfähigkeit einer offenen Gesellschaft  darauf zu reagieren

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - Der Nazi-Skandal um Emil Bührle zeigt auf, dass die Schweiz über 20 Jahre nach der Holocaust-Debatte immer noch Nachhilfe im Umgang mit Geschichte benötigt – ein Kommentar.

Die nackten Fakten und gesunder Menschenverstand hätten gereicht: Der Nazi-Kollaborateur und Waffenhändler Emil Bührle und seine Erben sollten im Jahre 2021 nicht hofiert werden. Doch genau dies tut die Zürcher Stadtregierung – und somit ist die Causa spätestens jetzt keine private mehr. Als ob die heftige Holocaust-Debatte um die nachrichtenlosen Vermögen, die umfangreichen Berichte der Unabhängigen Historiker-kommission Zweiter Weltkrieg (UEK), unzählige politische und Gerichtsverfahren nicht gereicht hätten, ist man nicht nur in Zürich wieder am moralischen Nullpunkt angelangt. Stadtpräsidentin Corine Mauch mit ihrer Regierung, Verantwortliche des Kunsthauses, von Kommissionen versuchen der Öffentlichkeit amoralisches Handeln wider die Fakten für das Gegenteil zu verkaufen, halten Abmachungen geheim und intervenieren nicht gegen die Lügen der Leihgeber Bührle.

Es hätte die neuesten Erkenntnisse in den Recherchen von Yves Demuth im «Beobachter» und Daniel Binswanger in der «Republik», jene von tachles der letzten zwei Jahre gar nicht gebraucht, um in Sachen Bührle ein klares Verdikt zu sprechen: Die Sammlung eines Nazi-Kollaborateurs kommt höchstens geschenkt, mit höchster Transparenz in ein öffentliches Schweizer Museum – oder gar nicht. Nun, allerdings fliegen der Stadt Zürich die Verbiegungen, Verrenkungen, Konstruktionen und somit der größte Schweizer Nazi-Skandal der Gegenwart je länger desto mehr um die Ohren. Yves Demuth legte in seiner Recherche erstmals offen, wie in der Nachkriegszeit Hunderte Mädchen gegen ihren Willen als Zwangsarbeiterinnen in einer Toggenburger Fabrik des damals durch Waffenhandel reichsten Schweizers Emil G. Bührle arbeiteten. Daniel Binswanger zeigt in seiner bisher dreiteiligen Serie zum Fall Bührle eindrücklich politische Machenschaften vornehmlich in einer vollends moralisch korrupten Zürcher SP-Regierung, Ungereimtheiten und die Mechanismen in Zürichs Establishment auf, während vor allem auffällt, welche Medien und wer sonst zum Pakt mit dem Nazi-Kollaborateur schweigt. Eine SP, die mit Paul Rechsteiner und anderen einst federführend bei der Aufarbeitung der Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und der Verteidigung von berechtigten, aber oft von anderen verschmähten Anliegen von Opferverbänden war. Unter Druck journalistischer Recherchen haben nun die ehemaligen Mitglieder der UEK viel zu spät nach der Eröffnung des Kunsthaus Zürich statt längst davor reagiert. Dass in der Causa ausgerechnet der sonst so verdiente Historiker Jakob Tanner mit fragwürdigen Gutachten in Erscheinung trat, ist einer der unzähligen Kollateralschäden in dieser unrühmlichen, aber typischen Schweizer Art, sich der Vergangenheit zu stellen.


Rolf Blochs Credo

Vor 25 Jahren hat der damalige Präsident Rolf Bloch den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) mitten in der heftigen Holocaust-Debatte um die Anliegen der jüdischen und geschichtsbewußten Schweizer Gesellschaft klar positioniert und die Interessen der jüdischen Gemeinschaft vertreten. Mit seinem bei der Anhörung vor der Bankenkommission im US-Repräsentantenhaus formulierten Credo «Gerechtigkeit für die Juden und Fairness für die Schweiz» war er an vorderster Front mit dem richtigen Kompass und diplomatischem Geschick für die Sache Wegbereiter für Lösungen zwischen Opfern, Banken, Regierungen und Interessensvertretern. Doch der SIG der Gegenwart schweigt seit Monaten zum Nazi-Skandal. Immerhin beschäftigt die SIG-Geschäftsleitung um Ralph Lewin und die SIG-Gremien inzwischen einen teuren Apparat mit einer Brigade von Mitarbeitern. Doch – wie der SIG selbst aufführt – «Leiter Public Affairs und Kommunikation», «Chief Operating Officer», «Leiter Politik und Analyse», «Leiterin Administration», «Senior Projektleiterin Kommunikation», Generalsekretär und weitere Mitarbeiter Kommunikation, Projektmitarbeiter Social Media, Projektmitarbeiter Analyse sowie Mitarbeiter im Bereich Kultur, Jugend, Bildung und externe Berater reichen nicht aus, um so viel wohlklingende Titel mit Inhalt zu füllen, vor und hinter den Kulissen Politik zu machen oder für eine Minimalposition zur Bührle-Affäre – während man sonst oft zu rasch solche in den Äther posaunte. Alleine die SIG-Personalkosten schlagen im Budget 2021 mit 866 000 Franken zu Buche – externe Mandate nicht eingerechnet. In Interviews des Präsidenten, auf der Webseite und in internen Kommunikationen des Verbands findet sich seit Monaten kein Wort zur Causa Bührle. Wie soll ein Verband die Kür vollbringen, wenn er sich nicht mal der Pflicht stellt. Statt im Sinne der Sache Position zu beziehen, lassen sich derweil jüdische Funktionäre lieber schweigend an Eröffnungsanlässen des Kunsthaus Zürich sehen.


Unabhängige Forschung und Experten

Anders als andere Länder hat die Schweiz bis heute keine unabhängige Expertenkommission für Raubkunst installiert. Doch genau dazu hat sich die Schweiz mit der Unterschrift unter das Washingtoner Abkommen von 1998 sowie die Theresienstädter Erklärung von 2009 verpflichtet. Abkommen, die damals auch der SIG unterstützt hat und deren Umsetzung bisher nicht konsequent einforderte. Denn das Thema Zweiter Weltkrieg, Raubkunst, Museen ist auch ein zentrales jüdisches Anliegen, bei dem sich der SIG vielleicht mangels Bewusstsein, Kompetenz, aber sicher nicht mangels personeller und finanzieller Ressourcen unmöglich gemacht hat. Vielleicht kann der jüdische Dachverband ebenso wie die Plattform der Liberalen jüdischen Gemeinden der Schweiz (PLJS) dem Thema förderlich sein, in dem sie den Schweizer Historiker Raphael Gross als Präsident des längst nötigen unabhängigen Expertengremiums vorschlägt. Der international renommierte und verdiente Historiker und Holocaust-Forscher ist Präsident des Deutschen Historischen Museums, ist Mitglied der Limbach-Kommission – dem Pendant zur nun geforderten Schweizer Kommission – und hat sich kürzlich verdient gemacht mit Raub- und Kolonialkunstrückgaben an die Herkunftsländer.

Foto:
Das Kunsthaus Zürich 
©tachles

Info:
Auf www.tachles.ch finden sich im Dossier «Bührle» alle weiteren Artikel zur Sache.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 12. November  2021