Potemkinsche Treppe AK 19Serie: MARIA ORSKA  ... WIEDERENTDECKT ...Die Verfolgung einer kulturhistorischen Spur..., Teil 2/15

WM.Wolfgang.Mielke

Hamburg (Weltexpresso) - Geboren wird Maria Orska am 16.3.1893 in Nikolajew, einer russisch-ukrainischen Provinzstadt, 25 km nördlich vom Schwarzen Meer, gelegen an der Einmündung des Inguls in den schon breiten Bug, bevor sich der Bug über seine langgestreckte breite Trichteröffnung ins Schwarze mehr ergießt. - Maria Orska stammt aus einer jüdischen Familie. Ihr ursprünglicher Name ist Rahel Blindermann. Will man Großstadt und 'große Welt' atmen, muss man in das etwa 100 km westlich gelegene prachtvolle Odessa fahren.

#"Odessa wurde zur Chiffre für Russlands ökonomischen Erfolg und gesellschaftlichen Fortschritt im 19. Jahrhundert"#, schreibt Ursula Overhage. Die Hafentreppe von Odessa wurde durch Sergei Eisensteins (1898 – 1948) epochalen Film "Panzerkreuzer Potemkin" von 1925 weltberühmt, ja ein Symbol für Revolution und deren Niederschlagung durch staatlich-militärische Gewalt. Seit Eisensteins Film trägt die Treppe den Namen "Potemkinsche Treppe". Sie gilt als die berühmteste oder - heute immerhin noch - als eine der berühmtesten Treppen der Welt. - Errichtet wurde sie nach Planungen seit 1826 zwischen 1837 und 1841. Sie diente nicht nur der Verbindung zwischen dem etwas über 30 Meter tiefer liegenden Hafen und der Stadt, sondern gleichzeitig auch der Uferbefestigung. Da sie in einem Winkel von 30° errichtet wurde, wird sie auch als "Freimaurer-Treppe" bezeichnet, weil sie in dem höchsten Freimaurer-Grad erbaut ist. -

Darüber hinaus weist sie noch mehrere architektonische Raffinessen auf. Zunächst eine perspektivische: Die Treppe misst unten in der Breite 21,70 m; oben jedoch nur noch 13,40 m; dadurch scheint sie von unten viel viel länger, als sie in Wirklichkeit ist. #"Odessa scheint im Himmel zu thronen"#, beschreibt daher der FAZ-Autor Wolf Loebel, am 6.4.1989, die Wirkung der Treppe von unten. - Von oben ergibt sich die gegenteilige Wirkung: Die Treppe scheint einheitlich gleich breit und dadurch verkürzt: Der Hafen und das Meer werden so optisch an die Stadt herangerückt. - Diese beiden gegensätzlichen Eindrücke werden auch noch dadurch unterstützt, dass von unten gesehen die Treppe nur aus Stufen zu bestehen scheint; während von oben nur die großen Absätze zwischen den Stufen zu sehen sind, - nicht eine einzige Stufe -, dadurch gewissermaßen die Treppenabsätze selbst zu überdimensionalen Stufen werden, - wie für ein Siebenmeilenstiefel-Tempo geschaffen -, und so das Meer noch einmal heranholen. -

Ruhm als besondere Sehenswürdigkeit erlangte die Hafentreppe von Odessa aber schon im 19. Jahrhundert. Und so ist es nicht allzu überraschend, dass 1906 ein Auto ausgerechnet #diese# Treppe erklomm: Ein Oldsmobile Curved Dash. Dieses einer Kutsche noch ähnliche Auto war – noch #vor# dem Ford Modell T (das von 1908 – 1927 mit 15 Mio. Stück das meistgebaute Auto der Welt war, bis es 1972 vom VW-Käfer abgelöst wurde) -, selbst zwischen 1901 und 1907 das meistgebaute Auto der Welt. -

Nach Odessa flüchteten sich nach den polnischen Teilungen von 1793 und 1795 zahlreiche jüdische Familien. Um 1800 waren etwa 30% der Bevölkerung der Stadt jüdisch. 1821 kam es zu einem ersten Pogrom (dem 14 Juden zum Opfer fielen). Weitere Pogrome folgten: 1859, 1871, 1881 und 1905 – was auch die New York Times am 3.11.1905 meldete. -

New York hatte im Leben der Familie der Orska - vor ihrer Geburt - eine Rolle gespielt, denn ein Teil dieser Familie war Mitte des 19. Jahrhundert aus dem würtembergischen Wankheim, zwischen Reutlingen und Tübingen, nach Amerika ausgewandert. So wurde Maria Orskas Mutter 1863 dort, in der Kleinstadt Albion im Nordwesten des Staates New York, etwa 80 km östlich der Niagara-Fälle und 15 km südlich des Ontario-Sees, geboren. Sieben Jahre später siedelt die Familie nach Europa zurück, ans Schwarze Meer ... -

Als Rahel Blindermann Odessa im Jahr 1909 besucht, ist sie 16 Jahre alt. Und möchte natürlich Schauspielerin werden. Deswegen freut sie sich besonders darauf, ihrem Onkel Eugen Frankfurter zu begegnen, der einer der erfolgreichsten Theater- und Opern-Agenten Europas ist. Alexander Moissi (1879 – 1935) bringt er bei Max Reinhardt (1873 – 1943) in Berlin unter; Werner Krauß (1884 – 1959) wird von ihm entdeckt; die gefürchtete Adele Sandrock (1863 – 1937) wird von ihm protegiert; Enrico Caruso (1873 – 1921), den berühmtesten Tenor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, holte er 1906 an die Königliche Hofoper von Berlin. - Apropos Oper!: Das Opernhaus von Odessa wird für Rahel Blindermann selbstverständlich zur größten Attraktion – nicht die Hafentreppe. - Eisensteins Film wird übrigens erst 16 Jahre später gedreht werden.

Das Opernhaus von Odessa aber ist von den Wiener Theaterarchitekten Helmer & Fellmer 1883 – 1887 gebaut worden. Vor allem der Innenraum verrät schon ihre Urheberschaft. Besonders in der Art der vergoldeten Brüstungen und dem arkadenartigen Abschluss des Oberrangs mit seinen Stichkappengewölben. Wien wird auch für Rahel Blindermanns Zukunft die entscheidende Rolle spielen. Denn im Opernhaus kommt es dazu, dass ihr Onkel, dem sie nachmittags ein paar Puschkin-Verse offenbar eindrucksvoll vorgesprochen hat, sie mit nach St. Petersburg nehmen will, um sie dem Wiener Theaterschauspieler und Lehrer Ferdinand Gregori (1870 – 1928) vorzustellen.

Hier ist ein weiteres Beispiel für die vielfach gefühlskitschige Schreibe der Autorin: #"Die Aufführung beginnt (...) mit dem ersten Akt. Das Orchester hebt mit dem zarten Rosen-Adagio an, und zu den ersten Takten schwebt balancierend die wunderschöne Prinzessin Aurora auf die Bühne. 'Still', raunt Augusta Frankfurter ihrer unruhigen Tochter zu. Aber der Onkel nimmt Rahels Hand und drückt sie fest. Soll das ein Versprechen sein?"# - Vor allem die letzte Bemerkung, natürlich, hat es in sich. Reaktionen sind ehrlich: Habe ich beim ersten Lesen wohl nur etwas unwillig reagiert, so entlockte mir das Wiederlesen ein Lachen. (Reaktionen sind ehrlich!) - Nun ja: Es ist natürlich auch Füll-Material, um die Erzählung anschaulicher zu machen. Aber es verhält sich mit diesem zahlreichen Material wie mit nur durch billiges Aufblähfutter zum Wachsen gebrachtes Fleisch: Es schrumpft, wie erfahrene Köche berichten, rapide beim Braten in der Pfanne auf sein Mindermaß zurück. ---- Aber gleichwohl! Rahel Blindermann wird Gregoris Schülerin in Wien. ----

Foto:
Potemkinsche Treppe, AK, 19. Jht..

Info:
Ursula Overhage, "Sie spielte wie im Rausch" / Die Schauspielerin Maria Orska, Henschel-Verlag, 2021