kokoschka grafika marie orska1924Serie: MARIA ORSKA  ... WIEDERENTDECKT ...Die Verfolgung einer kulturhistorischen Spur..., Teil 8/15

WM.Wolfgang.Mielke

Hamburg (Weltexpresso) - Im Frühjahr 1914 schafft die Orska den Sprung nach Berlin. Ihr Theater werden die Meinhard- und Bernauer-Bühnen werden, das heißt in erster Linie das Hebbeltheater. Dieses Theater war das erste Theater, das Oskar Kaufmann (1873 - 1956) in Berlin errichtet hat. Seine Theater zeichnen sich durch eine edle Ausstattung zwischen Jugendstil und Art déco aus. Planung und Bau des Hebbeltheaters von 1906 – 1907; Eröffnung am 29.1.1908.

Dieses Theater, - errichtet von der 'Theater in der Königgrätzer Straße GmbH' -, wechselte mehrfach seinen Namen – entsprechend vor allem der Benennung der Straße, an der es liegt: Von 1908 – 1911 "Hebbeltheater"; von 1911 – 1930 "Theater in der Königgrätzer Straße" (oder auch "Königgrätzerstraße"); von 1935 - 1945 "Theater in der Saarlandstraße". Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Theater wieder in "Hebbeltheater" zurückbenannt. --- Das Hebbeltheater lag zwar nur mäßig repräsentativ am südlichen Rand der Berliner Innenstadt, entwickelte sich aber bald zu einer Bühne mit exquisiten Aufführungen und einer Vielzahl von Stars. Fast so etwas wie eine intellektuelle Experimentierbühne. Hier, etwas im Schatten liegend, konnten künstlerische Wagnisse eingegangen werden, an die sich die großen repräsentativen Bühnen nicht oder jedenfalls vorerst nicht wagten.

Wedekind und Strindberg (1849 – 1912) wurden #die# Autoren der Orska; wobei sie mit Wedekind selbst in dessen "Erdgeist" und "Büchse der Pandora", also dem 'Lulu'-Zyklus, gemeinsam auf der Bühne stand. An ihren ersten Erfolg mit der 'Lulu' in Altona konnte sie dabei anknüpfen, als das Stück am 4.11.1916 im Theater in der Königgrätzerstraße Premiere hatte. Günther Rühle (1924 – 2021) schreibt rückblickend über sie: #"Sie bestand. Man fühlte Gestaltung, Hoheit, wo man eitle Oberflächlichkeit vermutet hätte. Es begann eine rapide Karriere."# ---- Alfred Kerr schrieb ihr in seinen Kritiken geradezu Elogen: #"Nicht nur ein Genie der Technik stand vor den Blicken wie auf der deutschen Bühne keines zuvor, sondern in tieferem Sinn ein zauberhafter Gipfel bewusster Kunst. Das war die Schauspielerin M. Orska. Die Bildmächtigkeit (aber nicht nur die) flimmerte zu kaum gekannten Wirkungen empor. (...) Im Gang voller Melodie. Ein Kaleidoskop an Schönheiten. (...) alles ist von einer erschütternden Kraft, Jugend, Umwehtheit. Die Person ist ja wie eine Geige mit fünfzig Saiten; ein Mirakel der letzten Stufung. Die Eysoldt gab nur Anweisungen, wie die Lulu hätte sein können (...) – die Orska war, war, war es. Mit Lichtern, Schimmern, mit dem Glanz des Vollbringens, mit tausend Spiegelungen. Und mit dem Gefühl rätselvollen Triumphes."# (Der Tag, 7.11.1916.) --- Gertrud Eysoldt (1870 – 1955), hier 1919 als 'Lulu', war eine namhafte Reinhardt-Schauspielerin und kurzzeitig Intendantin des Kleinen Theaters, einem Teil der Kunsthochschule an der Hardenbergstraße Ecke Fasanenstraße, Berlin, wo heute der moderne Konzertsaal der Universität der Künste steht und wo sie am 23.12.1920 trotz offiziellem Verbot das als unsittlich angesehene Stück "Reigen" (1896-1897) von Arthur Schnitzler (1862 - 1931) aufführen ließ. Der nachfolgende 'Reigen-Prozess' im November 1921 endete mit Freispruch für alle Beteiligten. --

--------- Fritz Engel (1867 - 1935) vom Berliner Tageblatt aber schrieb über die 'Lulu' der Orska: #"Ihr Spiel, ihr Organ, jede Geste hat den Flimmerglanz und die gleißnerische Schlangenpracht. Sie löst eine sehr bewusste Kunst fast vollkommen in scheinbar unbewusste Wirkung auf."# (5.11.1916.) ------ Der Kritiker-Kollege Ludwig Sternaux (1885 - 1938) äußerte in der Täglichen Rundschau: #"(...) wir werden in Zukunft sie als Lulu denken müssen. Nicht nur der Maske wegen. Sie gab auch mehr im Spiel, ließ unter der äußeren Kälte heißere Gluten ahnen, war tierhafter und eindeutiger in ihren Lüsten und Begierden, schamloser in jeder Bewegung und dann doch wieder von einer kindlichen Unschuld, die die reifere Erscheinung Tilly Wedekinds nie vorzutäuschen vermochte. (...) Ihr gelang doch, was der Frau Wedekinds nie gelungen ist: die Lulu über das Persönliche Hinwegzuheben und zu einem Begriff werden zu lassen, dem strindberg-wedekindschen Begriff des schönen Weibtiers."# (5.11.1916.) ---

Tilly Wedekind (geb. Newes, 1886 - 1970) hatte die 'Lulu' im Juli 1906 als erste gespielt. Neben ihrem Mann als Doktor Schön. Ihre Memoiren wird sie 1969 #"Lulu – die Rolle meines Lebens"# nennen. Das kritische Echo für sie jedoch war flau. - Nun aber sah sie die Orska in 'ihrer' Rolle – und das, was Ludwig Sternaux benannt hat, - sie wird verstanden haben, was er meinte, und wenig begeistert darüber gewesen sein. - Für ihre Gefühls- und Temperaments-Ausbrüche war sie berüchtigt, seit sie nach einem Streit mit Wedekind im Winter 1906 vor aller Augen in die eiskalte Spree gesprungen war und gerade noch vor dem Ertrinken gerettet werden konnte. #"Zwei Tage später"#, schreibt Ursula Overhage, #"gab das Paar zur Überraschung der Öffentlichkeit seine Verlobung bekannt."# -

Die Eindrücke über das Spiel der Orska als 'Lulu' aber ähneln sich! Es sind Variationen #eines# Eindrucks: Dem der geschmeidigen, katzenhaften, lüstern-erotischen, in allen Farben spielenden, faszinierenden, letztlich aber ungreifbaren und vielleicht gerade darum so begehrenswerten Frau! #Das# war die Orska; - jedenfalls auf der Bühne. - Ob sie dabei als 'Lulu' kritisiert wird oder als eine der strindbergschen Figuren, spielt keine Rolle. Alle Kritiken, die sie zwischen 1910 und 1918 erhält, stimmen in Charakterisierung und Eindrucksschilderung überein: #"Sie stellt keinen Menschen dar, das Menschliche stellt sich in ihr dar. Sie gibt, indem sie aufnimmt, sie ist die Taube für den Heiligen Geist. Sie hat die Schönheit eines Bildes (...)"#, schreibt Herwarth Walden (1878 - 1941) am 1.5.1915 über sie. -------- Das Foto der Orska als 'Lulu' gibt eher die Vorstellung eines übertollen, spielenden Kindes; echt wirkende, tiefere Gefühle erwartet man nicht. Es muss nicht #"eitle Oberflächlichkeit"# sein, die man durch dieses Foto erwartet; #"Oberflächlichkeit"# aber bestimmt. Offenbar zu unrecht. Man kann sich das verdeutlichen, wenn man die späteren, tragisch wirkenden Bilder der Orska ansieht; auf ihnen das Brechen schon zu sehen meint, den Untergang. Zumal auf den Zeichnungen von Kokoschka: Sie ähneln den Bildern von unheilbar Rauschgiftsüchtigen; zeigen fast verängstigte, scheue Wesen, Verfolgungswahn in den Augen. - Der Drogen-Wahn kommt aber erst Anfang der 1920er Jahre in ihr Leben hinein ...

Foto:
Kokoschka, Grafika, Marie Orska1924
©