Jennifer Haleys „Die Netzwelt“ am Schauspiel Frankfurt

 

 

Klaus Philipp Mertens

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Frankfurter Inszenierung von Jennifer Haleys „Die Netzwelt“ stellt vieles infrage: Das Bewegen in virtuellen Welten genauso wie die alltäglichen Abgründe im Realen. Der Regisseur Bernhard Mikeska, den das Theaterpublikum in guter Erinnerung hat („Remake :: Rosemarie“,2009, „Making of :: Marilyn“, 2013), hat es geschafft, aus einer mittelmäßigen literarischen Vorlage eine sehr sehenswerte Aufführung zu machen.

 

Ein Mann steht auf der Bühne der Frankfurter Kammerspiele, allein, leicht vorgebeugt, ein Tuch über dem Kopf, seine Hände sind mit Handschellen auf dem Rücken fixiert. Neben ihm ein Stuhl. Hinter ihm die Wand, die den größten Teil der Spielfläche von einem schmalen Streifen im Vordergrund abtrennt. Was sich dahinter verbirgt, ahnen die Zuschauer noch nicht. Dann ein Befreiungsschlag: Der Mann entledigt sich mit einem Ruck des Tuchs und der Handfesseln, setzt sich mit Wucht nieder. Eine Tür öffnet sich abrupt, herein tritt eine junge Frau, die an ein Wesen aus Star Trek oder Star Wars erinnert. Sie heißt Morris, ist Detektivin und verhört den Mann. Der trägt den Namen Sims und betreibt einen virtuellen Club, jene Netzwelt, in dem sich geheimste Wünsche erfüllen lassen, selbstverständlich gegen entsprechende Bezahlung.

 

Die Obsessionen, die mittels Avataren in der virtuellen Welt ausgelebt werden können, sind sexueller Art. Hoch im Kurs steht der Missbrauch kleiner Mädchen, sogar deren Tötung. Aber ihre Körper bleiben unbehelligt und sie sterben nicht wirklich, denn sie existieren lediglich in einer dreidimensionalen, wenn auch völlig realen Bildprojektion, die vom Betrachter intensiv erfahren werden kann.

Deswegen läuft das Verhör der Ermittlerin auch ins Leere. Denn eine kriminelle Handlung muss real und darf nicht lediglich fiktiv sein. Es wird auch keine strafbare Handlung vorbereitet und es kommt niemand zu Schaden. Zudem wird offenbar keiner dazu gezwungen, sich in die Netzwelt einzuloggen. Das übliche juristische Instrumentarium erweist sich als unbrauchbar zur Verfolgung moralischer Schuld, soweit man von einer solchen sprechen kann. Sims, der tüchtige Geschäftsmann mit perversen Neigungen, spricht folglich auch von der Möglichkeit eines Lebens jenseits aller Konsequenzen.

 

Das Verhör droht dennoch langweilig zu werden. Das liegt am Text, der sich zwar (oder leider) dicht am Original bewegt und der die Möglichkeit zur tiefergründigen Behandlung des eigentlich hoch interessanten Themas spürbar versperrt. Dann strahlt, einem Blitz vergleichbar, die gesamte vordere Beleuchtung auf. Die Rückwand der Bühne erweist sich als Spiegel, die Zuschauer blicken in ihre leicht verzerrten eigenen Gesichter. Die Botschaft ist klar: Wir sind die Spieler, ohne welche virtuelle Welten nicht funktionieren würden; denn es sind unsere Bedürfnisse und es ist unser Geld, das wir für deren Befriedigung auszugeben bereit sind. Das ist ein Meisterstück der Regie und es gleicht viele Schwächen der literarischen Vorlage aus.

 

Plötzlich tritt Dunkelheit ein. Danach wird die Welt hinter dem Spiegel, der sich als Glaswand erweist, sichtbar und lebendig. Man blickt in einen Wald, der vom Gesang unsichtbarer Vögel erfüllt ist. Von hinten tanzt ein Mädchen nach vorn, sein weißes Hängerkleid unterstreicht die lolitahafte Erscheinung. Kurz danach erscheint Sims, eigentlich ja nur sein Avatar, und Iris umfängt ihn, den sie Papa nennt, mit einer Mischung aus Unschuld und Anmut, die exakt jene Begehrlichkeiten auszulösen vermag, die das Geschäftsmodell der Netzwelt ausmachen.

 

Erneut gleißendes Licht, die Zuschauer blicken in die verspiegelte Wand, dann Licht aus, wieder Normalbeleuchtung und Morris‘ Verhör wird fortgesetzt. Doch diesmal ist es nicht Sims, der den bohrenden Fragen unterzogen wird. Doyle, ein ehemaliger Lehrer, soll Rede und Antwort stehen über seine Beweggründe, sich als Stammgast in der Netzwelt zu bewegen. Der träumt davon, die wirkliche Welt endgültig zu verlassen und ganz in das virtuelle Refugium einzutreten. Zur rechtlichen Erhellung aber vermag er nicht beizutragen.

 

Schließlich loggt sich Detektivin Morris selbst, allerdings in männlicher Gestalt, ein, nennt sich Woodnut und begegnet dort dem Mädchen Iris, dessen dezenter Verführung sie erliegt. Vor allem an diesem Punkt gerät die Entwicklung der Geschichte in eine logische Engführung. Das trifft auch auf Iris‘ Entschlossenheit zu, ihre virtuelle Existenz zu hinterfragen und nach wirklicher Liebe zu verlangen. Haben sich die Avatare etwa verselbstständigt, sind sie nicht mehr die Marionetten ihrer Hintermänner bzw. ihrer Hinterfrau? Jennifer Haley scheint die populäre amerikanische Science Fiction-Literatur zu sehr verinnerlicht zu haben. Und möglicherweise die US-amerikanische Furcht, menschliche Verhängnisse vor allem im Kontext sexueller Fehlleitungen zu sehen. Die Gefährdung durch wirtschaftliche Macht und durch die Entsolidarisierung der Gesellschaft klingt in ihrem Text nicht an. Ebenso nicht die Enteignung des Menschen durch die leichtfertige Preisgabe seiner persönlichen Daten im Internet.

 

Am Ende gerät der moralische Anspruch der Detektivin ins Wanken. „Papa“ Sims offenbart sehr menschliche Seiten und Doyle erweist sich als bemitleidenswerte Gestalt. Unbeantwortet bleibt die Kernfrage, nämlich ob die Gesellschaft reale Phantasien und die daraus hervorgehenden virtuellen Traumwelten reglementieren darf. In Bernhard Mikeskas Inszenierung werden diese Probleme zwar nur unterschwellig, aber dennoch unabweisbar angesprochen, sodass sich die Zuschauer den komplexen Zusammenhängen nicht entziehen können.

 

Die Schauspieler tragen ihrerseits durch ihre exzellent verkörperten Rollen dazu bei, dass dieses Stück ein sehr sehenswertes, weil in seiner Botschaft unmittelbar nachempfindbares ist. Ein besonderes Lob gilt hierbei Alexandra Lukas, die die Iris darstellt.

 

 Foto: Szenenfoto (c) Birgit Hupfeld

 

Info:

 

Regie: Bernhard Mikeska; Bühne: Steffi Wurster; Kostüme: Almut Eppinger; Musik: Tobias Vethake; Dramaturgie: Alexandra Althoff

 

Besetzung: Thomas Huber (Sims/Papa), Paula Hans (Morris), Peter Schröder (Doyle), Alexandra Lukas (Iris), Viktor Tremmel (Woodnut).

 

Dauer 1 Stunde 40 Minuten. Auf dem Spielplan der Kammerspiele zunächst bis 16.04.2016.