Mal nicht tradiertes orientalisches Flair, sondern die interessante, moderne Kunstszene

 

Hanswerner Kruse

 

Istanbul (Weltexpresso) - Auf der Istiklai Caddesi, der mondänen Einkaufsstraße Istanbuls, drängeln sich täglich unzählige Menschen. Bereits hier lockt der Raum für Kunst ARTER derzeit mit provozierenden Kunstwerken aus Süd-Ost-Asien: Unechte erotische Geldscheine, klassische chinesische Bodenvasen mit aufgemalten Kanonen, Blechkronen aus recycelten Dosen oder Fantasieuniformen mit absonderlichen Orden.

 

Auf fünf Etagen inszeniert die private Stiftung Koç seit 2010 wechselnde Ausstellungen.

 

Auch das Museum Istanbul Modern wird hauptsächlich von einem Mäzen unterstützt. Hinter einer Moschee liegt die ehemalige Lagerhalle mit 8.000 qm Ausstellungsfläche direkt am Bosporus. Seit 2004 wird in der oberen Etage mit „Geçmi? ve Gelecek“ (Vergangenheit und Zukunft) eine dauerhafte, spektakuläre Mischung türkischer und internationaler Kunst präsentiert.

 

Beim Eintreten berührt den Besucher der zerschossene Windfang um die Treppe und macht, neben grellen Neonwörtern, deutlich, das Museum ist kein Elfenbeinturm. „Antiimperialistisch“ wirkt eine weiträumige Installation von Stühlen mit afrikanischen Masken, die europäische Reisekoffer mit riesigen Lupen betrachten: „Gib mir den Reiz wie beim ersten Sehen, sprach der Platz“, lautet der Kommentar. Wilde gemalte Wandbilder wechseln mit poetischen Lichtobjekten oder konstruktivistischen Skulpturen. Zu sehen sind viele, meist humorvolle Collagen mit textilen und anderen Materialien oder seltsame Videos:

Eine mit Kopftüchern völlig verhüllte Frau legt ein Tuch nach dem anderen ab, sagt dazu jeweils „Aisha“, „meine Mutter“, „Leyla“ usw., bis sie selbst unverhüllt übrig bleibt. So beziehen sich Objekte direkt auf den Orient, andere unterscheiden sich thematisch oder stilistisch gar nicht von internationalen Kunstwerken. Ganz am Rand der Ausstellung finden sich Kopien westlicher Maler von Cezanne bis Picasso durch frühe türkische Künstler. Zu sehen sind auch erste Aktzeichnungen aus den 20er-Jahren, als Staatsgründer Atatürk die Öffnung zum Westen forderte.

 

In der unteren Halle werden wechselnde temporäre Ausstellungen gezeigt: Die Kinoschau „100 Jahre Liebe“ ist schwierig, weil man Schauspieler und Filme nicht kennt. Aber die Fotos in „Yolda“ (Auf der Straße) sprechen, doppeldeutig, eine engagierte Bildsprache: Die Fotografen gehen auf die Straße, aber auch die abgelichteten Menschen sind auf der Straße. Fröhlich poetisch ist “Plurivocality” („Visuelle Kunst und Musik“), ein Männchen hockt auf einem Sandhaufen vor einem riesigen Lautsprecher oder ein doppeltes Horn wird zum autonomen Kunstwerk.

 

In der oberen Halle ermöglichen große Fenster zwischen den Artefakten Blicke auf den Bosporus mit den vielen Stadtdampfern: Auch dadurch changiert die Ausstellung zwischen Realität und Fiktion - was ist wirklich? Mit dieser Frage spielt ebenfalls der Nobelpreisträger Orhan Pamuk in seinem winzigen „Masumiyet Müzesi“ (Museum der Unschuld), das nicht weit entfernt liegt. Der Autor erzählte 2008 in dem gleichnamigen Roman ausschweifend von der unglücklichen Liebe des bereits verlobten Kemals zu seiner Geliebten Füsun. Im Buch berichtet Pamuk gleichzeitig, wie Kemal in seinem Liebeswahn bereits für das Museum (vier Jahre vor der Eröffnung!) zahllose Andenken an seine Geliebte sammelt.

 

Die Ausstellung beginnt mit Füsuns 4213 Zigarettenkippen: „Sie stellten für mich ganz besonders intime Gegenstände dar, von denen mich jeder an einen traurigen oder schönen Moment erinnerte.“ Es folgen viele nachgestellte Fotos, Schmuckstücke oder Alltagsgegenstände aus den 83 Kapiteln des Romans wie „Anatomische Verortung des Liebesschmerzes“ oder „Wie die Hündin im Weltall“.

 

Als Buch und Ausstellungshaus ist „Das Museum der Unschuld“ ein Zeitbild der westlich orientierten Istanbuler Bourgeoisie der 70er- und 80er-Jahre. Die war freundlicherweise nicht nur an der Moral und Kleidung des Westens interessiert, sondern schuf auch die Basis für die Rezeption und Förderung moderner Kunst.

 

Fotos: Titel: Die "antiimperialistische" Installation aus dem Text (Der sprechende Platz) sowie das moderen Museum, beide von Hanswerner Kruse

 

INFO:

 

ARTER Eintritt frei http://www.arter.org.tr

ISTANBUL MODERN http://www.istanbulmodern.org/

Museum der Unschuld
Eintritt frei, wenn man das Buch mitbringt. Dessen Lektüre ist nicht unbedingt nötig, weil der Audio Guide jedes Kapitel knapp zusammenfasst. http://www.masumiyetmuzesi.org/

Neben den genannten Räumen für Kunst gibt es viele weitere Galerien und Kunsträume.

Im September 2015 findet die 14. Biennale in Istanbul statt, die wie schon die vorausgegangenen Veranstaltungen die Internationalität der türkischen Kunstszene verdeutlicht.