zentralratderjuden.deDAS JÜDISCHE LOGBUCH

Yves Kugelmann

Europa (Weltexpresso) - Seit Jahrzehnten rufen Apologeten, Funktionäre und Politiker den Untergang des jüdischen Europas auf, fordern gleichzeitig Jüdinnen und Juden zur Auswanderung aus, warnen vor Antisemitismus und Terror und zeichnen das Bild einer bedrohten homogenen jüdischen Angstgemeinschaft auf dem Absprung. Funktionäre und Rabbiner implementieren seit Jahren zionistische Programme und wundern sich stolz, wenn Mitglieder irgendwann nach Israel auswandern.

Die Jewish Agency und Israels Botschaften praktizieren in Europa aggressive Alija-Programme, als ob es für die jüdische Gemeinschaft in Europa kein Morgen mehr gäbe, und formulieren ein europäisches Diasporajudentum, also ein Judentum auf Zeit, bis zur Rückkehr ins «Heilige Land».

Doch längst hat sich in Europa trotz Schoah und Antisemitismus ein vitales, lebendiges Selbstbewusstes Judentum mit Visionen, Perspektiven und eigener Programmatik etabliert. Das findet weitaus mehr Unterstützung von Gemeinschaften und Politik, als befürchtet. Ein Blick auf die europäisch-jüdische Landkarte und somit auf die real existierende jüdische Gemeinschaft in Gemeinden und Organisationen sowie auf die vielen Jüdinnen und Juden Europas, die ihr Judentum losgelöst vom organisierten Judentum leben, zeigt eine Realität zwischen Prosperität und Sorgenagenda, die sich so ganz anders darstellt, als das öffentliche Bild, das jüdische Organisationen permanent vermitteln.

Schon vor der Pandemie waren ökonomische, Bildungs-, soziale, gesellschaftliche und kulturelle Themen auf der Prioritätenliste jüdischer Menschen in Europa, deren Alltag weniger durch Sicherheits- und Antisemitismusprobleme, sondern vielmehr durch vitales Leben bestimmt ist. Ein Blick auf realisierte und geplante Neubau-, Umbau- und Erweiterungsbauprojekte von Gemeinde- und Kulturzentren, neuen Synagogen, Schulen, Museen usw. offenbart Investitionssummen von Hunderten Millionen, dies von Lissabon, Barcelona, London, Paris, Frankfurt am Main bis hin nach Osteuropa. Die organisierte genauso wie nicht organisierte jüdische Gemeinschaft wird sesshafter und ist jederzeit zur Migration bereit, wenn ökonomische Not oder Bedrohung sie dazu drängen.

Doch gerade die ökonomische Frage müsste im Fokus jüdischer Politik stehen, jüdisches Leben sollte nicht zur Geld-, sondern Normalitätsfrage gemacht werden. Wenn gerade die jüdische Gemeinschaft sich nicht zusehends separiert und isoliert, Menschen vermehrt integrieren, dann wird das in der kommenden Generation nachhaltigen Einfluss auf die demographische Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft haben, ähnlich wie in den USA. Dort haben Jüdinnen und Juden längst einen offeneren Zugang zur Frage der Weiterentwicklung der jüdischen Gesellschaft gefunden, die sich dem Einfluss vor allem auch von Israels Oberrabbinat und damit einer Ausschlusspolitik entzogen hat.

Denn nicht Konversion bringt die jüdische Gemeinschaft voran, sondern die Integration von so vielen Hunderttausenden oder gar Millionen von Jüdinnen und Juden, die durch die jüngste Geschichte der Vernichtung aus zerrissenen, verfolgten und Familien entstammen, die nur teilweise dem halachischen Definitionsmuster entstammen. Statt diese jüdischen Menschen weiterhin durch die jüdische Gemeinschaft – oder eher Rabbinate – auszugrenzen, wäre zu erkennen, dass sie mit ihrer starken jüdischen Identität von integraler Wichtigkeit sind für eine gesunde nicht ausgrenzende jüdische Entwicklung in Europa; eine Entwicklung, die ohnehin nicht aufzuhalten ist. Zweckoptimismus hilft dabei nicht weiter, sondern nur selbstbewusste, zukunftsgerichtete und realitätsbewusste Strategie. Wer seit Jahrhunderten Pessach und somit den Aufbruch in eine jüdische Zukunft lehrt, sollte es praktizieren und nicht ständig dagegenreden.

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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 26.3. 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.